Konzeptentwurf  für die Arbeit der Kommission zur Erforschung der NS-Geschichte der Westfälischen Wilhelms-Universität

Im Rahmen der von der Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität eingesetzten Kommission zur Erforschung der NS-Geschichte der Universität sollen neben der Personen- und Institutionengeschichte vor allem die wissenschaftlich-methodologischen Entwicklungen einzelner Fächer vor und nach 1933 sowie die strukturellen Bedingungen und Veränderungen von Forschung und Lehre innerhalb und außerhalb der Universität untersucht werden. In diesem Zusammenhang sollen die unterschiedlichen Verhaltensformen von Hochschullehren gegenüber dem NS-Regime, aber auch die Affinitäten einzelner wissenschaftlicher Positionen zu nationalsozialistischen Ideologemen bzw. ihre Anpassungsfähigkeit und Instrumentalisierung für Zwecke der Weltanschauungspolitik des Regimes beschrieben und bewertet werden. Des Weiteren sollen die Querverbindungen der Fakultäten und Fachbereiche der Universität zu außeruniversitären staatlichen und nicht-staatlichen Stellen in den Blick genommen sowie die Kontinuitäten und Brüche wissenschaftspolitischen Denkens vor 1933 und nach 1945 mit einbezogen werden.

Im Zentrum der Forschungsarbeit soll die Untersuchung der drei Themenbereiche Institutionen und Personen der Universität, wissenschaftspolitische Entwicklung der beteiligten Ministerien und der NSDAP sowie allgemeine Wissenschaftsentwicklung im jeweiligen Untersuchungsbereich stehen. Dabei werden die genannten Untersuchungsfelder nicht als von einander getrennte Systeme behandelt, sondern in Anlehnung an Mitchell Ash als in einem Wechselverhältnis zueinander stehende Ressourcen füreinander begriffen. In diesem Sinne wird der Ressourcenbegriff über seine gängige ökonomische Bedeutung hinaus erweitert, um u.a. kognitive, personelle, institutionelle und ideologische Aspekte mit einzubeziehen. Hierbei findet Beachtung, dass Ressourcenensembles nicht nur gegenseitig mobilisierbar sind und damit sowohl Wissenschaft als auch Politik die Möglichkeit bieten, Ressourcen des jeweils anderen Bereiches für ihre Zwecke zu instrumentalisieren; sie sind ebenso politisch multivalent, d.h. mit verschiedenen politischen Systemen kombinierbar, was diesem Forschungsansatz ermöglicht, über die Jahre 1933 und 1945 hinaus Kontinuitäten und Brüche in Form von Fortsetzung bzw. Um- und Neugestaltung von Ressourcenensembles zu verfolgen.

In Bezug auf weitere Methodik und Fragestellungen werden sich die im Rahmen der Kommission geplanten Forschungsvorhaben u.a. an den richtungweisenden Untersuchungen Kaufmanns zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, vom Bruchs zu Wissenschaften und Wissenschaftspolitik im Deutschland des 20. Jahrhunderts sowie Beckers, Dahms und Wegelers zur Geschichte der Universität Göttingen im Nationalsozialismus orientieren. Das Untersuchungsfeld ist breit gefächert.  Im Folgenden sollen exemplarisch einige Fragestellungen vorgestellt werden, die für die geplanten Untersuchungen besonders relevant sind.

Für die Westfälische Wilhelms-Universität ist bezüglich der genannten Disziplinen noch weitgehend unklar, welche Auswirkungen die NS-Herrschaft auf Form, Inhalt und Qualität von Lehre und Forschung und deren praktischer Anwendung hatte. Dabei stellt sich die Frage, in welcher Art und Weise NS-Führungsgruppen und -stellen wissenschaftliche Untersuchungen und Experten für ihre Zwecke instrumentalisierten.

Gleichzeitig muss der Fokus darauf gerichtet werden, wie umgekehrt Wissenschaftler selbst vom Systemwechsel und der neuen Herrschaftsstruktur profitierten. Wie nutzten sie die spezifischen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die das NS-System bot, für ihre Forschung aus? Wie versuchten sie, den neuen Machthabern ihr Spezialgebiet nahe zu bringen und für die Politik der Nationalsozialisten interessant zu machen? Welche Rolle spielten sie bei Beratung und Ausformung der NS-Politik, und welchen Einfluss hatten sie auf die Entscheidungsfindung? Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt die mögliche Funktion eines Multiplikators bzw. Katalysators, den die Universität und ihre Bediensteten im Rahmen von Verknüpfungsleistungen zwischen Universität, Wirtschaft, Politik und außeruniversitären Einrichtungen spielten. Auch könnte die Lehrerbildung und damit die Tradierung von Wissen sowie Ideologie auf den Nachwuchs in den Blick genommen werden. Dabei muss die Situation in Münster immer im Kontext der allgemeinen Wissenschaftsentwicklung in Deutschland und Europa betrachtet und analysiert werden, was die Forschungen über den Münsteraner Raum hinaus anknüpfungsfähig machen wird.

Ein Hauptteil der Untersuchungen wird sich neben der Analyse von Verflechtungen jedoch klassisch auf die Verhältnisse innerhalb der einzelnen Bereiche konzentrieren müssen. Bei den Personen und Strukturen sind in diesem Zusammenhang mehrere Aspekte von Bedeutung. So muss einerseits die Basis empirischer Auswertung, d.h. die Analyse von Altersgruppen, sozialer Herkunft und gesellschaftlichen Verknüpfungen durchgeführt werden. Dabei sollen neben der Professorenschaft auch Mitarbeiter und Studenten einbezogen werden. Darüber hinaus müssen Querverbindungen zu anderen, außeruniversitären Einrichtungen mit in den Blick genommen werden.

Auch das individuelle Verhalten der Belegschaft an wichtigen Zäsurpunkten wie Machtergreifung, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums und Krieg muss im Hinblick auf Handlungsspielraum und Verstrickung analysiert werden. Welches Selbstverständnis hatten die Professoren, und wie sahen sie ihren Fachbereich? Wie liefen Gleichschaltung und Restrukturierung ab? Wie änderten sich die Verhältnisse zwischen Hochschule und Staat, und wie gingen die Beteiligten damit um? Im Hinblick auf Forschungsschwerpunkte sind u.a. Publikationen, Untersuchungsthemen, Inhalte von Lehrveranstaltungen, Dissertationen und Examensarbeiten von Bedeutung.

Auch in Bezug auf die allgemeine Wissenschaftsentwicklung sind für die einzelnen Fakultäten und Fachbereiche grundlegende Fragestellungen zu untersuchen, so z.B. nach dem Einfluss des Nationalsozialismus auf bestehende interdisziplinäre Verknüpfungen, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten bei Terminologie, Leitfragen, -begriffen und Untersuchungsfeldern, der Verschiebung von Prioritäten und Selbstverständnis einzelner Fächer und deren Umgang mit der eigenen Vergangenheit nach 1945. Ebenso müssen im Hinblick auf die Weimarer Zeit und die junge Bundesrepublik Kontinuitäten und Brüche in Denkmustern, Methoden, Fragestellungen, Repräsentationen und personellen Netzwerken untersucht werden. Bleiben Erkenntnismodelle und Denkformen, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden sind, zeitunabhängig gültig und wirken wissenschaftlich und außerwissenschaftlich weiter? Wie wirkt sich die Entnazifizierung allgemein und speziell an der Westfälischen Wilhelms-Universität auf das Personal aus?

Des Weiteren sollen auch Entscheidungsprozessen auf Seiten von Partei und Staat analysiert werden, die in früheren Studien oftmals zu wenig beachtet worden sind. So gilt es u.a. zu klären, auf welchen Ebenen Entscheidungsprozesse abliefen, welche Kooperationen und Auseinandersetzungen es dabei gab und welchen Handlungsspielraum Beteiligte vor Ort hatten. Da sich der Untersuchungszeitraum auf die Zeit von 1920 – 1960 erstrecken wird, können so auch Unterschiede oder Parallelen im Verhältnis zu Weimar oder der BRD bzw. der DDR herausgearbeitet werden.

Bei all dem steht zu jedem Zeitpunkt die Situation in Münster im Mittelpunkt, es wird jedoch immer auch eine Einordnung in den nationalen und internationalen Kontext stattfinden, um die Frage nach dem Stellenwert der Universität im Vergleich zu anderen Bildungseinrichtungen zu beantworten.

Erfreulicherweise stellt sich die Quellenlage für die Erarbeitung der erwähnten Themenbereiche gut dar. So werden neben dem Universitätsarchiv, dem Staatsarchiv sowie dem Stadtarchiv Münster auch Arbeiten in den Archiven der Landschaftlichen Verbände Westfalens, im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, dem Geheimen preußischen Staatsarchiv in Berlin sowie auswärtigen Universitätsarchiven durchgeführt. Dabei können umfangreiche Unterlagen aus Verwaltungs- und Lehrbetrieb der Universität sowie Gegenakten der staatlichen Stellen und Quellen außeruniversitärer und mit der Universität verknüpfter Einrichtungen für die geplanten Untersuchungen ausgewertet werden. Je nach Fakultät und Fachbereich kommen durchaus noch weitere Rechercheorte in Frage, so dass davon ausgegangen werden kann, eine Vielzahl von Material zur Bearbeitung zur Verfügung zu haben, um eine wissenschaftlich stichfeste, auf einer breiten Basis fundierte und allen Erfordernissen modernen Geschichtsmethodik und -schreibung gerecht werdende Forschung garantieren zu können.