Prof. Dr. Hans‐Ulrich Thamer
Vorsitzender der Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der WWU Münster

Stellungnahme der Kommission zum wissenschaftlichen Werk des Hygienikers Prof. Karl Wilhelm Jötten in der NS‐Zeit

Die Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte der Westfälischen Wilhelms‐Universität hat sich zusammen mit der Kommission der Medizinischen Fakultät zur Erforschung ihrer Geschichte in der NS‐Zeit auf der Grundlage eines Forschungsberichtes von Manfred Witt ausführlich mit den rassehygienischen Forschungen des Direktors des Instituts für Hygiene Karl Wilhelm Jötten in der NS‐Zeit beschäftigt. Das Bild, das sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand von den wissenschaftlichen Arbeiten Jöttens ergibt, ist so widersprüchlich wie das für viele Wissenschaftler dieser Zeit gilt. Es ist von der Kontinuität anerkannter wissenschaftlicher Arbeit und von opportunistischer Anpassung an die politischen Vorgaben und Zwänge des NS‐Regimes geprägt.

Jötten galt vor 1933 und nach 1945 auf Grund seiner Arbeiten zur Staublungenforschung, zur Bakteriologie und zur TBC‐Gesundheitsfürsorge als hervorragender Hygieniker und erhielt dafür in der Nachkriegszeit zahlreiche Ehrungen bzw. Berufungen in gesundheitspolitische Gremien. Innerhalb des nationalen und internationalen eugenischen Diskurses der späten 1920er Jahre nahm er eine gemäßigte Position ein, die sich deutlich von Arbeiten der radikalen Rassehygieniker unterschied. In einer einzigen seiner über 200 Arbeiten widmete sich Jötten 1935 unter dem Titel „ Erbhygienische Untersuchungen an Hilfsschulkindern“ einem spezifisch nationalsozialistischen rassehygienischen Thema. Die Untersuchung, die auch als Vortrag auf einem Internationalen Bevölkerungskongress in Berlin Ende August 1935 vorgestellt wurde, basierte auf der Auswertung von ca. 4300 Personalbögen von „Hilfsschülern“ durch seine Doktoranden. Diese Personalbögen waren von den Schulen selbst erstellt worden. Die wissenschaftlichen Methoden, nach denen die Auswertung erfolgte, entsprachen damit nicht den bereits damals geltenden wissenschaftlichen Standards und waren offensichtlich nur auf die Vorlage politisch verwertbarer Ergebnisse bzw. auf Seiten der Doktoranden auf den Erwerb rascher akademischer Auszeichnungen angelegt. Sie sollten dem Nachweis dienen, dass auch die Fälle eines leichten Schwachsinns auf Vererbbarkeit beruhten und damit in den Anwendungsbereich des NS‐Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses gehörten. Jötten lieferte mit dieser Publikation eine Begründung für die Zwangssterilisation von ca. 100 000 Kindern in Deutschland. Darin liegt seine wissenschaftspolitische und moralische Verantwortung. Eine direkte Mitwirkung Jöttens bei den Verfahren zur Zwangssterilisation ist jedoch nicht nachweisbar.

Es gibt Anzeichen dafür, dass Jötten mit diesem Vortrag seinen von fakultätsinternen Gegnern bedrohten Lehrstuhl sichern konnte; dass sein zuvor abgelehnter Antrag auf Aufnahme in die NSDAP nun positiv beschieden wurde und er 1936 Dekan der Medizinischen Fakultät werden konnte. Jötten selbst widmete sich danach wieder der Staublungenforschung, betreute aber bis 1945 weitere Dissertationen und Habilitationen zur Rassenhygiene und Rassenforschung.