Pressemitteilung upm

Operation schenkt neue Lebensqualität

Epilepsiechirurgie als neues Behandlungsangebot am Universitätsklinikum Münster

Münster (upm), 08. September 2005

[Epilepsie]
Vor der Operation muss der Ursprung des epileptischen Anfalls genau lokalisiert werden.Dies geschieht unter anderem über ein Dauer-EEG. Das Foto zeigt MTA Pia Richardt beim Aufkleben der Elektroden.
   

Napoleon und Lenin, Dostojewski und Paganini, Alfred Nobel und Isaac Newton haben eines gemeinsam: Sie alle und mit ihnen viele weitere bekannte Staatsmänner, Künstler und Wissenschaftler sollen unter Epilepsie gelitten haben. Allerdings lebten sie allesamt zu früh, um von den modernen Therapiemöglichkeiten zu profitieren, wie sie Epilepsiekranken heute angeboten werden. Neben einer in den weitaus meisten Fällen sehr wirkungsvollen medikamentösen Behandlung zählt dazu inzwischen auch die Epilepsiechirurgie. Neuerdings werden solche Operationen, bei denen der erkrankte Bereich im Gehirn entfernt wird, von dem der Anfall ausgeht, auch am Universitätsklinikum Münster (UKM) vorgenommen.

Voraussetzung für diese neurochirurgischen Eingriffe ist allerdings eine sehr aufwändige Diagnostik im Vorfeld der Operation. Dabei geht es nach Worten von Prof. Dr. Dr. Stefan Evers, zuständiger Oberarzt in der Klinik für Neurologie des UKM, insbesondere darum, den Ursprung des epileptischen Anfalls exakt zu lokalisieren. Herzstück der prächirurgischen Diagnostik ist ein modernes "Monitoring", mit dem ein möglicher Operationskandidat über mehrere Tage und Nächte rund um die Uhr beobachtet wird. Auf dem einen Monitor werden kontinuierlich die über Dauer-EEG aufgezeichneten Hirnströme überwacht, auf dem anderen das von einer Videokamera aufgezeichnete Verhalten des Patienten. Dem Monitoring voraus geht eine bildgebende Diagnostik in der Radiologie und in der Nuklearmedizin, um Informationen über Schädigungsorte und Stoffwechselveränderungen des Gehirns zu gewinnen. Hinzu kommen neuropsychologische Untersuchungen, die Aufschluss über Lage und Ausdehnung der für Sprache und Gedächtnis zuständigen Hirnregionen geben, denn diese Strukturen dürfen bei der Operation nicht verletzt werden.

Nach der erfolgreichen Premiere im Mai vergangenen Jahres wurden nach Angaben von Dr. Stefan Palkovic, zuständiger Oberarzt in der Klinik für Neurochirurgie des UKM, werden jetzt regelmäßig solche Operationen durchgeführt. Die erste Patientin, die 40 Jahre lang an Epilepsie gelitten hat, ist heute anfallsfrei. Bislang hatte sie mehrmals in der Woche epileptische Anfälle, bisweilen sogar große, so genannte generalisierte Anfälle, die bis zum Bewusstseinsverlust führten. Neben den eigentlichen Anfällen hatte sie früher fast täglich so genannte Auren, das heißt oft nur Sekunden währende Empfindungsstörungen, wie beispielsweise verändertes Geruchs- oder Geschmackserleben, was sich etwa in typischen Schmatzbewegungen äußern kann.

Die ersten Ergebnisse aus Münster entsprechen den bisherigen internationalen Erfahrungen mit der Epilepsiechirurgie: "In bis zu 70 Prozent der Fälle lässt sich eine völlige Anfallsfreiheit erreichen", so Palkovic. Das knappe Drittel der Patienten, bei dem nach der Operation nach wie vor Anfälle auftreten, profitiert in der Regel dennoch von dem Eingriff, da die Häufigkeit anschließend meistens deutlich reduziert ist und Medikamente besser wirken. Am besten geeignet für einen epilepsiechirurgischen Eingriffe sind laut Palkovic solche Patienten, bei denen der Ursprung des Anfalls im Bereich des Schläfenlappens (Temporallappen) liegt. Ursache der Epilepsie ist hier meistens eine Gewebeveränderung (Läsion) in diesem Teil des Gehirns.

Wie groß der zu entfernende Bereich tatsächlich ist, hängt auch von der Beobachtung der Hirnaktivität während der Operation ab. So erfolgt die im Schnitt rund dreistündige Operation unter wiederholter EEG-Kontrolle. Um nicht zu wenig krankes, aber auch nicht zu viel gesundes Gewebe zu entfernen, bedient sich der Operateur aber vor allem der Neuronavigation: So kann er die Schnittführung auf einer individuellen "Landkarte" des Gehirns, die im Vorfeld der Operation per Computer aus den Informationen der bildgebenden Diagnostik erstellt wurde, präzise planen.

Nach Angaben Evers' haben in Deutschland 0,5 bis ein Prozent der Bevölkerung, das heißt rund eine halbe Million Menschen, irgendwann im Verlauf ihres Lebens eine Epilepsie. Den weitaus meisten Betroffenen kann heute mit Medikamenten sehr gut geholfen werden. Mit geschätzten 40.000 Patienten ist die absolute Zahl der Patienten, die medikamentös nicht befriedigend behandelt werden können, jedoch immer noch recht hoch. Und längst nicht alle können auch wirklich operiert werden.

Für andere aber kann die Epilepsiechirurgie erstmals eine wirkliche Erlösung von einem Leiden bringen, das in der Vergangenheit über lange Zeit mit bösen Geistern und Dämonen in Verbindung gebracht wurde und in der deutschen Geschichte Teil einer menschenverachtenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten war. Noch heute wird die Epilepsie in der Öffentlichkeit zuweilen völlig zu unrecht als eine Art Geisteskrankheit angesehen. Eine enorme psychosoziale Belastung ist die Erkrankung für die meisten Betroffenen jedoch allemal.

Klinik für Neurologie