Pressemitteilung upm

Mentale Pause für das Gehirn

Neurophysiologen aus Münster erforschen Ursachen einer häufigen Epilepsieform bei Kindern

Münster (upm), 11. November 2005

[Epilepsie]
Das Forscherteam am Institut für Physiologie I: (v.l.) Dr. Tatyana Kanyshkova, Dr. Thomas Budde und Prof. Dr. Hans-Christian Pape.
   

In der Schule gelten sie oft als kleine Träumer. Eben noch voll konzentriert, sind sie manchmal für kurze Augenblicke allem Anschein nach in einer ganz anderen Welt. Um dann allerdings binnen weniger Sekunden oder Minuten von einem Moment zum anderen aufzuschrecken und wieder voll bei der Sache zu sein. Viele Lehrer und selbst manche Eltern solcher Kinder wissen nicht, dass hinter der immer wieder auftretenden kurzzeitigen geistigen Abwesenheit auch etwas ganz anderes stecken kann als bloße Träumerei oder gar ein Hang zum Einnicken. Denn solche Erscheinungen sind ganz typische Symptome einer speziellen und besonders häufig bei Kindern auftretenden Form von Epilepsie, und zwar der so genannten Absence-Epilepsie (nach dem französischen Begriff Absence de lïesprit), wie der münstersche Neurophysiologe Prof. Dr. Hans-Christian Pape erklärt. Hierbei treten ohne Vorwarnung kurze Phasen mit dramatisch verringertem Bewusstsein auf, an die sich die Patienten später auch nicht erinnern. Etwa acht bis zehn von100.000 Kindern leiden an dieser Form der Epilepsie. Der Arbeitsgruppe von Prof. Pape am Institut für Physiologie I des Universitätsklinikums Münster (UKM) ist jetzt ein Durchbruch bei der Ursachenforschung dieser Erkrankung gelungen, die anders als die meisten anderen Epilepsien in der Regel nicht mit deutlichen motorischen Krampfanfällen einhergeht.

Die Ergebnisse der Forschungsarbeiten, die vor kurzem in der renommierten internationalen Fachzeitschrift "Journal of Neuroscience" veröffentlicht wurden, belegen, dass bei einer Absence-Epilepsie Veränderungen in den Aktivitäten von Nervenzellen (Neuronen) in einem Teil des Zwischenhirns, dem so genannten Thalamus, vorliegen. Grundsätzlich, so Pape, bestimmt der Thalamus unsere Phasen von Schlaf, Wachheit und Aufmerksamkeit, ähnlich einem Tor zum Bewusstsein. Bei Wachheit und Aufmerksamkeit leiten die Nervenzellen des Thalamus die eintreffenden Sinnessignale an das Großhirn zur Endverarbeitung der Sinnesinformation weiter - das Tor ist geöffnet. Beim Schlaf produzieren diese Nervenzellen im Thalamus ganz eigene elektrische Aktivitätsmuster in einer langsam-rhythmischen Abfolge, einem Taktgeber nicht unähnlich, die die Weiterleitung der Sinnessignale zum Großhirn kaum mehr möglich macht - das Tor zum Bewusstsein ist geschlossen, das Gehirn schläft. Starke Sinnesreize können diese langsam-rhythmische Eigenaktivität unterbrechen und die Zustände der Wachheit einleiten - wie jeder Mensch aus der Erfahrung des morgendlichen Weckerklangs oder anderer Weckreize weiss. Bei der Absence-Epilepsie spielen diese Prozesse im Thalamus die entscheidenden Rolle. Ähnlich wie im Tiefschlaf, produzieren die Nervenzellen des Thalamus langsam-rhythmische Aktivität, die allerdings zwischen den Nervenzellen noch fester gekoppelt ist. Die Folge ist ein tiefer Bewußtseinsverlust.

Einzelne Nervenzellen haben dabei, ähnlich wie entsprechende Zellen im Herzen, eine Schrittmacherfunktion, das heißt sie sorgen für den gleichmäßigen Takt. Diese Schrittmacherfunktion wird durch Hirnbotenstoffe kontrolliert und damit der Übergang von Schlaf zu Wachheit im Gehirn reguliert. In ihren Laboruntersuchungen haben Prof. Pape und seine Mitarbeiter Dr. Thomas Budde und Dr. Tatyana Kanyshkova in einem Modell der kindlichen Absence-Epilespsie nun herausgefunden, dass dieser Schrittmachermechanismus in epileptischen Neuronen verändert ist. Die genaue Grundlage sind erbliche Veränderungen (Mutationen) von Molekülen in der Zellmembran der Nervenzellen, die den Takt generieren. Das hat zur Folge, dass die gekoppelten langsamen Rhythmen im Thalamus bevorzugt auftreten, vor allem aber durch die Hirnbotenstoffe nur mehr sehr eingeschränkt kontrolliert werden können.

Damit haben die münsterschen Wissenschaftler nicht nur eine der entscheidenden Grundlagen der Absence-Epilepsie charaktierisiert, sondern darüber hinaus einen gezielten Ansatzpunkt für eine neue spezifische Therapie identifiziert. So laufen bereits gemeinsame Studien mit der Industrie, um entsprechende Substanzen zu entwickeln, die die veränderten Moleküle spezifisch beeinflussen und damit den epileptischen Anfall und eventuell die Entstehung der Absence-Epilepsie zu verhindern.

Institut für Physiologie I