Pressemitteilung upm

Opportunistische Anpassung

Kommission legt Stellungnahme im Fall Jötten vor

Münster (upm), 08. April 2008

Jötten
Studierende überklebten im vergangenen Jahr das Straßenschild am Jöttenweg. Foto: jri

Die Kommission zur Erforschung der Geschichte der Universität Münster im 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der NS-Zeit hat ihre Ergebnisse im Fall von Prof. Dr. Karl Wilhelm Jötten vorgelegt. Der ehemalige Direktor des Instituts für Hygiene war im vergangenen Jahr in die Schlagzeilen geraten, weil unter seiner Führung rund 20 Doktorarbeiten mit rassenhygienischen Untersuchungen an einigen tausend Hilfsschülern entstanden waren. "Das Bild, das sich nach dem gegenwärtigen Forschungsstand von den wissenschaftlichen Arbeiten Jöttens ergibt, ist so widersprüchlich, wie das für viele Wissenschaftler dieser Zeit gilt. Es ist von der Kontinuität anerkannter wissenschaftlicher Arbeit und von opportunistischer Anpassung an die politischen Vorgaben und Zwänge des NS-Regimes geprägt", heißt es in der Stellungnahme der Kommission.  

"Wenn man sich die fraglichen Dissertationen anschaut, ist es auffällig, dass es sich fast ausschließlich um Doktoranden handelt, die schnell und zügig einen Doktortitel bekommen wollten", berichtet Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer, Leiter der Kommission. Das lasse sich aus der schnellen Bearbeitungszeit und dem geringen wissenschaftlichen Wert schließen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten habe es zunächst ein großes Misstrauen gegenüber Jötten gegeben, sicher sei, dass sein Gesuch auf Aufnahme in die NSDAP zunächst auf Eis gelegt wurde. "Wir können nur vermuten, dass er unter Druck gesetzt wurde. Es sieht so aus, als hätten beide Seiten bekommen, was sie wollten: die einen schnell einen Doktortitel, Jötten die Legitimation, dass er sich mit rassenhygienischen Fragstellungen beschäftigt hat." Nach Erscheinen der Doktorarbeiten wurde Jötten ziemlich schnell in die NSDAP aufgenommen. "Jötten war sicher nicht einer der Vorkämpfer der Eugenik, sondern eher einer der Außerseiter", ist sich Prof. Dr. Hans-Peter Kröner vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin sicher.  

1935 publizierte Jötten einen Aufsatz zu rassenhygienischen Fragen, der auf den Promotionsarbeiten seiner Doktoranden basierte. Dazu heißt es in der Stellungnahme: "Jötten lieferte mit dieser Publikation eine Begründung für die Zwangssterilisation von ca. 100.000 Kindern in Deutschland. Darin liegt seine wissenschaftspolitische und moralische Verantwortung. Eine direkte Mitwirkung Jöttens bei den Verfahren zur Zwangssterilisation ist jedoch nicht nachweisbar."  

Thamer warnt vor einer schnellen Verurteilung: "Die Kollegen aus der Medizin haben bestätigt, dass Jötten zu Recht für seine Staublungenforschung, zur Bakteriologie und zur TBC-Gesundheitsfürsorge vielfach ausgezeichnet worden ist. Diese Beiträge waren seriös und wichtig." Der Fall Jötten mache vor allem deutlich, dass eine rein auf Personen konzentrierte Aufarbeitung kurzsichtig und vom wissenschaftlichen Standpunkt unsauber sei, so Thamer. "Wir müssen die tatsächlichen Zusammenhänge zwischen Institutionen, Personen und der Wissenschaftslandschaft im Zusammenspiel mit staatlichen Einrichtungen betrachten", fordert Thamer. Den Standards der modernen Wissenschaftsgeschichte wird die 1980 erschienene Universitätsgeschichte nicht gerecht, so sein Urteil. "Es ist dringend erforderlich, die NS-Zeit und auch die Zeit danach aufzuarbeiten."  

Da die Mechanismen in allen Fächern ähnlich seien und sich nicht auf die Medizin beschränkten, außerdem zahlreiche Zusammenhänge zwischen Medizin und anderen Fächern wie der Biologie gefunden worden seien, kündigte der Dekan der Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Volker Arolt, an, dass die eigens für die Medizin gebildete Kommission mit der für die Gesamtuniversität verschmelzen solle. Allerdings müsse der Fachbereichsrat diesem Plan noch zustimmen.  

Stellungnahme