Pressemitteilung upm

Vieles regelt sich von selbst

Langzeituntersuchung zur Jugendkriminalität in Duisburg

Münster (upm), 11. September 2008

Warum werden Jugendliche straffällig? Prof. Dr. Klaus Boers, Kriminologe an der Universität Münster, und Prof. Dr. Jost Reinecke, Soziologe an der Universität Bielefeld, gehen dieser Frage mit einer in Deutschland einmaligen kriminologischen Verlaufsuntersuchung nach. Mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurden seit 2002 3.400 Duisburgerinnen und Duisburger zwischen ihrem 13. und bislang 19. Lebensjahr jedes Jahr befragt. Die Untersuchung soll bis zum 30. Lebensjahr fortgesetzt werden. Das Forschungsteam stellte am 11. September 2008 in Duisburg seine bisherigen Befunde Praktikern aus Polizei, Schule, Justiz und Jugendhilfe vor.  

Die Ergebnisse beziehen sich auf das Dunkelfeld der Jugendkriminalität, wenn man die Jugendlichen direkt nach den von ihnen begangenen Taten fragt. Da nur die wenigsten Taten bei der Polizei angezeigt werden, ist das Dunkelfeld erheblich größer als die Polizeistatistik. Insgesamt wurde nach 15 Taten gefragt: vom Ladendiebstahl bis zum Raub. Drei Fünftel der befragten Jugendlichen haben bis zum 17. Lebensjahr schon mindestens einmal eine dieser Taten begangen. Gewaltdelikte wie Körperverletzungen und Raubdelikte, werden mit knapp einem Drittel seltener genannt. "In der Jugendphase sind leichte und mittlere Straftaten nicht ungewöhnlich. Bei den meisten Jugendlichen geht es um das Ausprobieren von Grenzen, und sie lernen dadurch die Geltung von Regeln und Normen", so Prof. Reinecke. Im Altersverlauf geht die Kriminalität deshalb bei allen Deliktsarten nach einem steilen Anstieg gegen Ende des Kindesalters schon im Jugendalter wieder deutlich zurück.  

Bemerkenswert ist, dass nach den Dunkelfelduntersuchungen die höchste Kriminalitätsbelastung früher als bislang angenommen liegt und der Kriminalitätsrückgang bereits im 15. Lebensjahr einsetzt. Die meisten Jugendlichen begehen nur ein bis zwei Taten, davon ein geringerer Teil drei Taten, und davon wiederum nur ein Teil vier Taten: "Der allergrößte Teil der Jugendkriminalität regelt sich aufgrund von angemessenen Reaktionen in den Familien und Schulen von selbst", so die Wissenschaftler. Problematisch sind jugendliche Intensivtäter mit fünf und mehr Gewaltdelikten pro Jahr. Diese Gruppe ist mit etwa. fünf Prozent zwar klein, gab aber die Hälfte aller Taten und den größten Teil der Gewaltdelikte zu. Allerdings geht auch deren Anteil früher als bislang angenommen, nämlich bereits ab dem 16. Lebensjahr, wieder deutlich zurück. "Rechtzeitig erfolgende und pädagogisch bewährte Maßnahmen durch das soziale Umfeld, die Jugendhilfe und die Justiz haben hier die größte Chance, eine delinquente Entwicklung zu bremsen", fasst Kriminologe Prof. Boers die langjährigen internationalen Forschungsbefunde zusammen.  

Der Alkoholkonsum ist insgesamt recht hoch und steigt, im Unterschied zur Delinquenzentwicklung, während des Jugendalters stetig an. Ein Viertel der Befragten hatte im 17. Lebensjahr einen intensiveren Konsum (mehr als einmal im Monat betrunken), was allerdings um ein Drittel unter den Raten von Jugendlichen in Münster lag. Problematisch ist, dass der intensive Alkoholkonsum mit deutlich erhöhten Gewaltraten zusammenhängt, dies allerdings nur bis zur Mitte des Jugendalters. Schon ab dem 15. Lebensjahr geht der Anteil der Gewalttäter unter den Intensivkonsumenten zurück. "Im Hinblick auf die Gewaltkriminalität wird der Alkoholkonsum mit zunehmendem Alter besser beherrscht", erläutert Prof. Reinecke. Im Unterschied zum Alkoholkonsum nimmt der Drogenkonsum, dabei handelt es sich ganz überwiegend um Cannabisprodukte, schon ab dem 16. Lebensjahr wieder ab. Allerdings ist hier der Anteil der Gewalttäter unter den Intensivkonsumenten noch höher als beim Alkohol, geht aber ebenfalls ab dem 15. Lebensjahr wieder zurück.  

Die Schule ist insgesamt ein sicherer und für viele Schüler auch angenehmer Ort. Nur bis zu einem Achtel aller Taten wurde in der Schule begangen. Am häufigsten einfacher Diebstahl sowie einfache Körperverletzung und Sachbeschädigung, seit jeher schultypische Delikte. Gefährliche Köperverletzungen wurden nur zu unter einem Zehntel in der Schule begangen. Allerdings wurde auch bei durchschnittlich einem Achtel der Raubdelikte die Schule als Tatort genannt. "Offenbar ist manchem Jugendlichen die Schwere dieses häufig als 'Abziehen' verharmlosten Delikts nicht klar", meint Prof. Boers. Nahezu alle Schüler fühlten sich in der Schule, auf dem Schulhof und dem Schulweg sicher. Auch das Schulklima sowie das Verhältnis zu den Lehrern wurden insgesamt positiv, an den Hauptschulen allerdings weniger gut als an den anderen Schulen, beurteilt.  

Dass Gewaltspiele und Gewaltfilme Jugendliche zunehmend aggressiv machen, ist in der internationalen Forschung nur schwach belegt. "Der Inhalt der meisten Gewaltspiele, insbesondere der Ego-Shooter, ist Besorgnis erregend. Auch, dass vor allem Jungen aller Schulformen einen großen Teil ihrer Zeit mit solchen Spielen verbringen. Hier sind die Eltern und die Medienpädagogen gefordert", sagt Prof. Reinecke. Die allermeisten Spieler könnten zwischen realen und virtuellen Welten aber sicher unterscheiden. Gewaltmedien könnten sich bei gewaltsam oder gleichgültig erzogenen Jugendlichen allerdings etwas negativer auswirken.  

Dass vor allem jugendliche Migranten kriminell werden, konnten die Wissenschaftler nicht pauschal nachweisen. Es geht hier vor allem um die Gewaltkriminalität. Bei anderen Delikten sind jugendliche Migranten ohnehin weniger auffällig. Und natürlich sind nicht alle Migrantengruppen betroffen: "Eine erhöhte Verbreitung von Gewalt findet sich meist unter den sozial Schwächeren, mit weniger Bildung, aus benachteiligten Wohnvierteln und mit schlechteren Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt", sagt Prof. Boers. Solche Jugendliche mit Migrationshintergrund seien allerdings kaum gewalttätiger als ähnlich benachteiligte deutsche Jugendliche. In Duisburg konnten die Forscher kaum Unterschiede zwischen Jugendlichen türkischer und deutscher Herkunft im Hinblick auf gewalttätiges Verhalten feststellen. Die Gründe erscheinen vielfältig: Die Jugendlichen türkischer Herkunft bekennen sich häufiger zu traditionellen Werten und Religiosität, konsumieren weniger Alkohol und Drogen und sind in der Bildung nicht durchweg benachteiligt. Insgesamt sind Mädchen deutlich weniger gewalttätig als Jungen und treten im Jugendalter drei- bis zehnmal seltener als Intensivtäterinnen in Erscheinung. Türkische Mädchen sind dabei noch weniger gewalttätig als deutsche.  

Nationale und internationale Studien belegen, dass es keine Wundermittel zur Gewaltprävention gibt. So bewirken abschreckende, einschüchternde oder einfach nur harte Strafen bei Gewalttätern im besten Falle wenig, meistens sind sie kontraproduktiv. Aber durch eine Differenzierung, zum Beispiel nach Delikten, Tätergruppen und sozialer Umgebung, mit mehreren aufeinander abgestimmten Maßnahmen vernetzter Institutionen - Jugendhilfe, Schule, Therapie, Polizei und Justiz - lasse sich etwas erreichen, ist Prof. Boers optimistisch. "Zum Beispiel mit einer Kombination aus gezielter Tatbearbeitung, Täter-Opfer- Ausgleich, Aufbau des Norm- und Rechtsbewusstseins, Neugestaltung tragfähiger sozialer und beruflicher Bindungen und nicht zuletzt einer zurückhaltenden Sanktionierung."  

Lehrstuhl Prof. Boers