Pressemitteilung upm

Wer heilt, hat recht

Ethnologen der Universität Münster untersuchen die Rolle von Religion in der Psychiatrie

Münster (upm), 22. Februar 2012

"Wer heilt, hat recht!" Aber können Schamanen oder christliche Heilige wirklich wirksamer sein als die moderne westliche Medizin? Wenn Patienten davon überzeugt sind, von einem Geist besessen zu sein, dann hilft es ihnen nicht, wenn bei ihnen eine Psychose diagnostiziert wird, weil sie mit dieser Kategorisierung nichts anfangen können. Deshalb ist es notwendig, kulturelle und gesellschaftliche Hintergründe zu kennen und ernst zu nehmen. Zu diesem Zweck treffen sich mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung in diesen Tagen Psychiater, Ethnologen und Soziologen an der Universität Münster, um das Wechselspiel von "Psychiatrie und Religion" zu beleuchten.

Dr. José-Marie Koussemou stammt aus dem Benin und praktiziert als Psychiater in Süddeutschland. "Man muss den Patienten dort abholen, wo er steht, auch wenn man selbst davon überzeugt ist, dass es keine Hexerei gibt", sagt der Mitorganisator der Tagung. Dr. Arne Steinforth vom Institut für Ethnologie der Universität Münster hat diese Erfahrung in Malawi gemacht: "Die Behandlung fängt schon bei der Frage an, welches Verhalten überhaupt als Krankheit wahrgenommen wird." In den christlich oder muslimisch geprägten Regionen des afrikanischen Landes werde Krankheit häufig als kosmologische Störung interpretiert und Hilfe bei örtlichen Heilern gesucht. "Wenn Psychiater in Anspruch genommen werden, beklagen sie häufig, dass die Krankheit zu weit fortgeschritten und eine Hilfe nicht mehr möglich sei. Das stärkt nicht gerade das Vertrauen in die westliche Medizin."

Das gilt auch in Indien, wie die münstersche Professorin Dr. Helene Basu in ihren ethnologischen Forschungen feststellen konnte. Sie forschte an einem religiösen Heilort, an dem Menschen sich von Geistbesessenheit zu befreien suchen und an dem seit Kurzem auch Psychiater Sprechstunden anbieten. Indem sie Antidepressiva und andere Psychopharmaka verteilen, werden Grenzen zwischen säkularer Wissenschaft und religiösen Praktiken überschritten.

Das gelingt allerdings nur, wenn Ärzte bereit sind, eine Pluralität von Heilpraktiken zu akzeptieren – was während ihrer akademischen Ausbildung oft infrage gestellt wird. "Psychiater sind wissenschaftlich ausgebildet und haben häufig den Bezug zu dem Weltbild eines Großteils ihrer Landsleute verloren", erläutert Arne Steinforth. "Das führt zu einer Hierarchisierung der Krankheitskonzepte. Viele potenzielle Patienten fühlen sich nicht ernst genommen und missverstanden."

Ein Problem, das nicht nur in anderen Regionen der Welt besteht. Denn auch hierzulande spielen religiöse Konzepte vielfach eine große Rolle – seien es nun christliche oder muslimische Vorstellungen, die Migranten mit Bewohnern Bayerns oder Westfalens durchaus teilen. So nimmt man in Krankenhäuser inzwischen Rücksicht auf diverse Essensvorschriften und Verhaltensregeln. "Je nach kulturellem Background wird Leid anders erlebt und artikuliert. Dazu kommen Unterschiede in der Lebenssituation mit entsprechenden Stressfaktoren", erklärt Nina Grube, die auf einer psychiatrischen Station und in einer afrikanische Pfingstkirche in Berlin geforscht hat. "Besonders Migrationserfahrungen schaffen Situationen, auf die die Psychiatrie antworten muss."

Zu der Tagung treffen sich renommierte Experten aus dem In- und Ausland, unter ihnen der US-amerikanische Ethnologe Prof. Dr. Thomas Csordas, der christliche Heilspraktiken untersucht hat Prof. Dr. Laurence Kirmayer vom Institut für Transkulturelle Psychiatrie in Montreal und Prof. Dr. Andreas Heinz von der Berliner Charité.

 

Institut für Ethnologie