Pressemitteilung upm

"Der Beste ist, wer Höchsteistungen unter großem Druck abrufen kann"

Zum Start der EM: Sportprofessorin Karen Zentraf erklärt, von welchen Leistungs- und Trainingsfaktoren der Erfolg abhängt

Münster (upm), 08. Juni 2012

Das Warten hat ein Ende: Die Fußball-Europameisterschaft hat begonnen und die deutsche Mannschaft bereits erfolgreich in das Turnier eingegriffen. Sportwissenschaftlerin und Leistungsexpertin Prof. Karen Zentraf erklärt im Interview, worauf es für das Löw-Team im mentalen und körperlichen Bereich besonders ankommen wird, welche Leistungsreserven es bezüglich der Leistungsfähigkeit im Fußball gibt und wer ihrer Meinung nach Europameister wird.

Frau Prof. Zentgraf, welchen Tipp würden Sie Jogi Löw für das Training der Nationalmannschaft mitgeben, um das deutsche Team zum Titel zu führen?
Um die Leistungsfähigkeit der Mannschaft zum richtigen Zeitpunkt abzurufen und gleichzeitig über das ganze Turnier hochzuhalten beziehungsweise noch zu steigern, scheinen mir einige Prinzipien relevant: Der Schlüssel liegt darin, ein Training anzubieten, das die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse, Vorgeschichten und Profile der Spieler berücksichtigt. Denken Sie an die Unterschiede zwischen den Nationalspielern des FC Bayern München, deren Saison erst am 19. Mai endete, und denjenigen, die einige Wochen keine oder nur wenig Spielpraxis hatten. Die andere wichtige Komponente ist die mentale Vorbereitung: einen Weg zwischen hoher Fokussiertheit für das Spiel einerseits und Lockerheit und Ablenkung andererseits zu finden. Da sind aber nicht nur die Trainer gefragt, sondern auch die Spieler in ihrer Selbstregulation.

Sie sind ehemalige Volleyball-Bundesligaspielerin und haben die Juniorinnen-Nationalmannschaft mental betreut, um das Zusammenspiel zu verbessern. Wäre das nicht auch für die Fußballnationalmannschaft wichtig?
Das Zusammenspiel ist das spielrelevante Element in den Mannschaftssportarten. Der moderne Fußball ist schnell, taktisch anspruchsvoll und  es wird mehr, zügiger und effizienter gepasst als früher. Die Anforderungen sind sehr hoch im Leistungssport
bezüglich visueller Wahrnehmung und Antizipation – die gedankliche Vorwegnahme, welche Aktion mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem bestimmten Effekt führt. Hierin unterscheiden sich Experten und Novizen deutlich. In einem meiner Projekte ging es darum, die Spielerinnen auf gruppentaktische Situationen besser vorzubereiten und zum Beispiel über Bewegungsvorstellungen von Spielsituationen, die gemeinsam positiv gelöst werden, so etwas wie „Bahnungen“ für die reale Situation zu erzeugen. Außerdem haben wir die Spielerinnen mit Videos konfrontiert, in denen sie selbst in speziellen gruppentaktischen Situationen zu sehen waren und von ihnen dann verlangt, ihr Verhalten aus der Sicht einer anderen Spielerin zu beschreiben. Manchmal konnten die Spielerinnen nicht fassen, wie ungünstig sie sich aus der Perspektive der Mitspielerin verhalten hatten. Solche Interventionen sind prinzipiell auch für den Fußball denkbar.

Wo gibt es denn Ihrer Meinung nach im Bereich des Fußballs noch Leistungsreserven?
Die besten Teams der EURO 2012 werden sich nicht mehr groß in den Schnelligkeits-, Kraft- oder Ausdauerleistungen unterscheiden. Da ist das Niveau gleichmäßig hoch. Es wird aber immer Optimierungsmöglichkeiten geben. Viel entscheidender sind auf diesem Niveau die taktischen Verhaltensweisen auf der individuellen und kollektiven Ebene – das geht von der Entscheidung, wohin und wann die Flanke geschlagen wird, über die psychische Kapazität, sich an Handlungsrichtlinien, die die Trainer ausgeben, über den gesamten Spielverlauf zu halten. Und zudem, wie im Champions-League-Finale zu sehen war: Das Abrufen von Leistungen unter hohem Druck zeichnet die Besten aus. Wie trainiert werden muss, um dieses Versagen unter Druck („Choking-under-pressure“) zu minimieren, ist ein Forschungsschwerpunkt auch in der internationalen Sportwissenschaft.

Sie interessieren sich ja in ihrer Forschung auch dafür, was beim Zuschauen von sportlichen Bewegungen im Gehirn passiert. Werden wir also durch das Zuschauen auch selbst besser?
Das wäre ziemlich bequem, wenn wir nicht mehr physisch trainieren müssten. Ohne reales Training geht es nicht. Allerdings zeigen Studien, dass durch Beobachtung der sportlichen Handlungen anderer Personen unsere Bewegungsrepräsentationen verändert werden können und dies verhaltenswirksam wird. Interessant ist, dass wir in unseren grundlagenorientierten Forschungen zeigen können, dass – entgegen traditioneller Annahmen – motorische Gehirnregionen auch bei kompletter Bewegungslosigkeit aktiv sein können, wenn wir nämlich Bewegungshandlungen nur beobachten oder sie uns vorstellen. Bei Experten und bei hoher Vertrautheit mit den beobachteten Bewegungen zeigt sich eine besonders starke Aktivierung. Das Konzept, das besagt, dass motorische Regionen nur für die Bewegungsausführung bedeutsam sind, ist also überholt.

Wer ist Ihr Favorit bei der EURO 2012?
Ich tippe auf Spanien, obwohl ich mich auch über einen deutschen Erfolg sehr freuen würde.

Arbeitsbereich Leistung und Training (Sportwissenschaft)