Pressemitteilung upm

Demografische Veränderungen nutzen

Wirtschaftspsychologe Prof. Guido Hertel skizziert fünf Chancen für die Zukunft der Arbeit

Münster (upm), 04. Februar 2013

Gastautor Prof. Guido Hertel
Gastautor Prof. Guido Hertel Foto: WWU
Der Trend ist eindeutig: Es gibt immer mehr ältere und weniger junge Menschen.
Der Trend ist eindeutig: Es gibt immer mehr ältere und weniger junge Menschen. Foto: zettberlin/photocase

Er ist da, der demografische Wandel - kein Zweifel. Deutschland erlebt, ähnlich wie die meisten anderen europäischen Länder, die USA oder Japan, drastische Veränderungen der Bevölkerungsstruktur. Einerseits ist die Zahl der Geburten seit den 1970er Jahren deutlich zurückgegangen ("wir werden weniger"), andererseits ist die durchschnittliche Lebenserwartung stark gestiegen ("wir werden älter"). Diese Veränderungen waren lange abzusehen und werden uns auch noch in den kommenden Jahren beschäftigen. Sie haben insbesondere drastische Konsequenzen für die Arbeitswelt.

Als Wirtschaftspsychologe wird man zunächst mit den Problemen konfrontiert, die aufgrund der demographischen Veränderungen entstehen. Allen voran natürlich der Fachkräftemangel, der schon lange nicht mehr nur hochspezialisierte Ingenieursberufe betrifft, sondern zunehmend auch Lehrer, Verwaltungsbeamte oder Polizisten. Ein weiteres Thema ist die Sorge, dass die zunehmend älteren Berufstätigen den aktuellen und zukünftigen Herausforderungen nicht mehr gewachsen sind (auch wenn wissenschaftliche Studien dies nicht bestätigen), und dadurch mittelfristig unser Lebensstandard gefährdet ist. Und schließlich fragen sich viele Berufstätige, wie eine faire Altersabsicherung aussehen kann angesichts immer weniger Nachwuchskräften, auf die sich die Versorgungsaufgaben verteilen. Diese Sorgen sind berechtigt und erfordern kluges und umsichtiges Handeln sowohl in Unternehmen als auch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Gleichzeitig bietet der demografische Wandel – wie so oft bei großen Veränderungen – aber auch inte-ressante Chancen für unsere aktuellen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Hier eine Auswahl:

Chance 1: Der demografisch bedingte Fachkräftemangel zwingt uns, näher zusammenzurücken, um die anfallende Arbeit zu bewältigen, aber auch, um weiterhin technologische und wirtschaftliche Innovationen als Grundlage unseres Wohlstands hervorzubringen. Arbeitsbedingungen müssen flexibler gestaltet werden, um auch die Bevölkerungsgruppen zu beteiligen, die bislang außen vor standen.

Ein Beispiel ist die Flexibilisierung des Ruhestands für diejenigen, die länger als 67 arbeiten wollen und dafür beispielsweise vorher Auszeiten für Familie, Reisen oder die eigene Fortbildung nehmen. Denkbar sind auch mehr attraktive Teilzeitmodelle, die familiäre Aufgaben besser mit Erwerbsarbeit vereinbar machen. Der demografische Wandel kann helfen, Ausgrenzungen zu reduzieren und die Balance zwischen Arbeit und Privatleben zu verbessern.

Chance 2: Der demografisch bedingte Fachkräftemangel führt zu einer grundlegenden Perspektivänderung auf dem Arbeitsmarkt. Während kürzlich Berufstätige noch um einen Arbeitsplatz konkurrierten, kämpfen mittlerweile vielerorts Arbeitgeber um Berufstätige. Dies verstärkt den Druck auf die Humanisierung von Arbeitsbedingungen, da zusätzliche finanzielle Mittel oft nur begrenzt verfügbar sind. Flexible Arbeitszeiten, Kinderbetreuung und Fortbildungsprogramme sind mindestens genauso entscheidend, um Arbeitnehmer langfristiger zu binden. Der demografische Wandel rückt somit die Bedürfnisse und Interessen von Berufstätigen stärker in den Mittelpunkt.

Chance 3: Die Zunahme älterer Berufstätiger steigert den Bedarf an technologischen Assistenzsystemen. So werden in der Automobilmontage beispielsweise zunehmend Montagehilfen eingesetzt, die muskuläre Belastungen aufgrund von einseitigen Körperhaltungen reduzieren. Solche Systeme kommen natürlich auch jüngeren Berufstätigen zugute und reduzieren Belastungserscheinungen auch langfristig, so dass altersbedingte Einschränkungen erst deutlich später auftreten. Der demografische Wandel kann so die Gesundheitsorientierung am Arbeitsplatz steigern und Arbeitsbedingungen sicherer und weniger belastend machen.

Chance 4: Wirtschaftspsychologische Studien zeigen, dass ältere Berufstätige - aufgrund ihrer kürzeren verbleibenden Zeit im Beruf - stärker auf ihre momentanen Arbeitsbedingungen achten und weniger auf zukünftige Möglichkeiten. Dadurch sind für ältere Berufstätige neben einem positiven Arbeitsklima vor allem auch Autonomie und Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit sehr wichtig. Die Zunahme älterer Berufstätiger steigert dadurch die Bedeutung von Werten bei der Arbeit. Darüber hinaus sind ältere Berufstätige stärker an Selbstständigkeit bei der Arbeit interessiert, aber auch an gegenseitiger Hilfe und Weitergabe der eigenen Expertise.

Chance 5: Die Veränderungen zwingen uns zu mehr Toleranz. Die Altersspanne von Belegschaften wird größer, ebenso der Anteil weiblicher Berufstätiger und derer mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund. Zwar kann die Vielfalt den Koordinationsbedarf erhöhen und Missverständnisse begünstigen, gleichzeitig sind unterschiedliche Perspektiven oft der Schlüssel für zusätzliche Effektivität, vor allem wenn es um Innovation und Kreativität geht. Wirtschaftspsychologische Studien zeigen, dass Vielfalt besonders bei komplexen Aufgaben vorteilhaft ist, vorausgesetzt, es herrscht eine positive Grundeinstellung und die Bereitschaft, Unterschiedlichkeit als Chance zu begreifen.

Was braucht es, um die skizzierten Chancen tatsächlich nutzen zu können? Sicherlich weitere Forschung, um bestehende Potenziale inklusive ihrer Grenzen zu erkennen und falsche (Alters-)Mythen zu enttarnen. Außerdem braucht es die Bereitschaft von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und von der Politik, innovative Veränderungen in der Gestaltung und Organisation von Arbeit zu wagen. Unsere wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft wird maßgeblich davon abhängen, wie gut wir die demografischen Veränderungen verstehen und nutzen.

Guido Hertel ist seit 2008 Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie an der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Altersunterschiede bei der Arbeit, Synergieeffekte in Teams sowie Effekte elektronischer Medien auf die Zusammenarbeit.


Dieser Gastbeitrag erschien in der Januar-Ausgabe der Universitätszeitung wissen|leben. Diesen und weitere Artikel finden Sie unter: www.uni-muenster.de/unizeitung/index.html