Pressemitteilung upm

Rauch, Schweiß und Verzweiflung

Jura-Studentin Hannah Wörmann verbrachte drei Nächte im Knast: ein Erlebnisbericht

Münster (upm), 23. Mai 2013

Ein mulmiges Gefühl im Bauch haben Hannah Wörmann (re.) und ihre Zellengenossin trotz lachender Gesichter. An vier Tagen und drei Nächten erlebten die angehenden Juristinnen in der JVA Oldenburg am eigenen Leib, was Strafvollzug bedeutet.
Ein mulmiges Gefühl im Bauch haben Hannah Wörmann (re.) und ihre Zellengenossin trotz lachender Gesichter. An vier Tagen und drei Nächten erlebten die angehenden Juristinnen in der JVA Oldenburg am eigenen Leib, was Strafvollzug bedeutet. Foto: picture alliance

Um 6 Uhr morgens reißt der Justizbeamte die schwere Stahltür mit voller Wucht auf und knipst das grelle Neonlicht in unserer Zelle an. Sarah, meine Zellenmitbewohnerin, und ich murmeln leise "Guten Morgen". Gestern hatte man uns erklärt, dass wir ein Lebenszeichen von uns geben sollten, um nicht von dem Justizbeamten geweckt zu werden – das sei sehr unsanft. Dieses Prozedere nennt sich "Lebendkontrolle" und wird in Justizvollzugsanstalten jeden Morgen durchgeführt. Nach dem ersten Schreck beim Aufwachen bekommen wir gleich den nächsten. Denn uns wird bewusst, wo wir uns befinden: im Knast.

60 Jurastudenten und Doktoranden, 20 Professoren und Uni-Angehörige der Hochschulen Münster, Hamburg, Greifswald und Göttingen  verbringen vier Tage und drei Nächte in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Oldenburg. Das "Seminar hinter Gittern" ist deutschlandweit und vielleicht sogar weltweit die erste Veranstaltung dieser Art. Ziel der Veranstaltung ist es, künftigen Richtern, Staatsanwälten und Strafverteidigern zu vermitteln, wie es sich anfühlt, eingesperrt zu sein und ständig kontrolliert zu werden. Die Wahl fiel auf die JVA Oldenburg, weil das fast 160 Jahre alte Gefängnis jüngst geschlossen wurde. Die letzten Gefangenen haben im März die JVA verlassen. Als Klaus Boers, Professor für Kriminologie an der WWU, uns von dem geplanten Seminar zum Thema Strafvollzug berichtete, war ich sofort begeistert. Als ich einen der wenigen Plätze bekam, freute ich mich auf die einmalige Erfahrung.

Zwar hatte ich durch ein Praktikum und zwecks Recherche für meine Seminararbeit schon mehrere Justizvollzugsanstalten von innen gesehen, aber noch nie in einem Gefängnis übernachtet. Vielleicht würde die Gefangenenkost sogar besser sein als das Mensaessen und die Zelle größer als mein Zimmerchen im Studentenwohnheim, scherzte ich, bevor es losging. Als das Seminar näher rückte, wurde mir aber doch etwas mulmig zumute: Wie würde es sein, eingeschlossen zu werden und nicht aus eigener Kraft aus der Zelle herauszukommen? Wie würde es sich anfühlen, in demselben Bett zu schlafen, in dem kurz zuvor ein Gefangener gelegen hatte? Wie würde das Gefangenenessen tatsächlich schmecken?

"Bitte geben Sie mir Ihr Handy!" Diesen – für viele sehr schmerzhaften – Satz hören wir bei unserer Ankunft bei der Taschenkontrolle. Die nächsten Tage werden wir auch ohne Fernsehen, Radio und Internet auskommen müssen. Stattdessen ständige Überwachung von zahlreichen CCTV-Kameras. "Strafvollzug heißt Kontrolle pur", erklärt Anstaltsleiter Gerd Koop.

Ein eigenartiger, sehr unangenehmer Geruch schlägt mir entgegen, als ich unsere spartanisch möblierte Zelle betrete: Eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch (obwohl das Rauchen in der Anstalt verboten war), Schweiß und einer unbeschreibbaren Komponente, die jemand als "Verzweiflung" beschreibt. Das Gitterfenster befindet sich im oberen Drittel der Zelle. Um hinaus schauen zu können, klettere ich auf einen wackligen Holzstuhl, sehe jedoch nur die hohe Backsteinmauer und den Angst einflößenden Nato-Draht. Die Wände sind über und über bekritzelt mit Zeichnungen, gewalttätigen Sprüchen ("Sprengt diesen Scheißbunker!", "Fickt eure Scheißjustiz!", "Wenn ich dich sehe, begrabe ich dich!") und Handynummern. Als wir die Betten beziehen, entdecken wir Blutflecken und Brandlöcher in der Bettwäsche. Wir schlafen in denselben Betten auf denselben Matratzen und aßen von demselben Geschirr, das auch die Gefangenen vor nur wenigen Wochen benutzt haben. Nichts ist seit dem Auszug des letzten Gefangenen verändert worden.

"Hast du einen Gürtel für mich", fragt mich eine Kommilitonin. Sie hat nach nur zwei Tagen schon etwas abgenommen – das Gefängnisessen ist nicht gerade schmackhaft und üppig. Zum Frühstück um viertel vor 7 Uhr gab es zwei Scheiben Brot (eine Scheibe Graubrot und eine ungetoastete, wabbelige Scheibe Weißbrot), Käse, Wurst, Diätmarmelade, Kaffee, Tee, Wasser oder Saft. Zum Abendessen das gleiche, zur Abwechslung mit Camembert statt Gouda. Obst gibt es keines, Gemüse nur in Form eines kleinen Salats zum Mittagessen. Die Mahlzeiten werden auf der Zelle eingenommen. Ich habe Glück, dass ich in einer Zweierzelle gelandet bin (wir sind willkürlich zugeteilt worden, genau wie die Gefangenen bei Haftantritt auch), sonst wäre die Nahrungsaufnahme noch trostloser. Die Einzelzellen sind sechs bis acht Quadratmeter groß, die Zweier- und Dreierzellen etwas größer.

Die vier Tage verbringen wir jedoch nicht nur im Gefängnis. Vormittags haben wir Seminarsitzung mit Vorträgen und Diskussionen rund um das Thema Strafvollzug und nachmittags besichtigen wir die Hauptanstalt in Oldenburg und die offene Vollzugsanstalt in Wilhelmshaven. Die Hauptanstalt ist ein Hochsicherheitsgefängnis, nach außen hermetisch abgeriegelt: 6.5 Meter hohe Mauer, modernste Videotechnik, rund um die Uhr bewacht. Nicht einmal die Justizbeamten oder gar der Anstaltsleiter können die Anstalt selbstständig verlassen; sie besitzen gar keine Schlüssel. Sie sind ständig auf die Mitarbeiter der Sicherheitszentrale angewiesen, die ihnen die schweren Türen ferngesteuert öffnen.

Um Punkt 22 Uhr fällt die schwere Stahltür unserer Zelle mit einem lauten "Rums" ins Schloss. Der Justizbeamte dreht den Schlüssel um, und dann herrscht unangenehme Stille. Ich wälze mich auf der steinharten Matratze hin und her. Die Gitterstäbe werfen ihre Schatten an die gegenüberliegende Zellenwand. Am schlimmsten empfinde ich neben dem Verlust der Freiheit den Verlust der Selbstbestimmung: Man kann nicht aussuchen, wann man aufsteht, wann man isst oder gar, was man essen möchte, wann man duscht ... Alles ist fremdbestimmt. Bereits nach der ersten Nacht bin ich froh, bald wieder in Freiheit zu sein.

Die vier Tage in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg sind eine außergewöhnliche, spannende und sehr wertvolle Erfahrung, die mir in Erinnerung bleiben wird. Professoren und Studierende sind sich am Ende einig: Es sollten viel häufiger solche Seminare mit Praxisbezug im Jurastudium angeboten werden. Schließlich können sich viele der in der Justiz tätigen Juristen nicht vorstellen, wie es ist, eingeschlossen zu sein. Zwar werden im juristischen Referendariat regelmäßig Führungen durch Justizvollzugsanstalten angeboten. Diese können jedoch das Gefühl des Lebens hinter Gittern nicht wiedergeben. Ob ich die Erinnerung – sollte ich Richterin oder Staatsanwältin werden – bei jeder Verurteilung im Hinterkopf haben werde, kann ich nicht vorhersehen. Allerdings finde ich es sinnvoll zu wissen, was die Menschen, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden, wirklich erwartet.

Von Hannah Wörmann

Erschienen in der Mai-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben.
www.uni-muenster.de/unizeitung