Pressemitteilung upm

Ein Wimpernschlag für Kernphysiker

Am größten und leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt arbeiten auch WWU-Wissenschaftler: ein Besuch

Münster (upm), 23. Mai 2013

"SHUTDOWN: NO BEAM", prangt in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Monitor in der Mensa des Kernforschungszentrums CERN in der Nähe von Genf. Der Bildschirm verkündet, was derzeit im größten Teilchenbeschleuniger der Welt passiert, im Large Hadron Collider (LHC): nichts.

Sonst werden in dem knapp  27 Kilometer langen unterirdischen Ringsystem Teilchenstrahlen in gegenläufiger Richtung beschleunigt. Gigantische  Detektorsysteme messen an vier Kollisionspunkten in Frankreich und der Schweiz, was geschieht, wenn die Strahlen aufeinanderprallen und die einzelnen Teilchen unter der Wucht der höchsten Energiedichten, die Menschen je hergestellt haben, in ihre Bestandteile zersplittern. Seit Mitte Februar steht das komplette System jedoch still, insgesamt zwei Jahre lang. In dieser planmäßigen Pause werden der Beschleuniger und die Detektoren gewartet und überarbeitet. Unter anderem prüft und erneuert ein Heer von Technikern und Ingenieuren die Verbindungen zwischen den supraleitenden Magneten. Wenn der LHC danach aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, soll er mit höherer Energie arbeiten als je zuvor und den Wissenschaftlern noch tiefere Einblicke in die Welt der Elementarteilchen und die Beschaffenheit des Universums geben.

Im Kernforschungszentrum herrscht an diesem Frühlingstag trotz des Shutdowns Hochbetrieb. Gegen halb Eins ist die moderne Mensa mit Blick auf die imposante Kulisse des Juragebirges rappelvoll. In den Hostels auf dem CERN-Gelände ist kein Bett mehr frei. In einem der rund 500 Gebäude des Forschungszentrums arbeitet Prof. Johannes Wessels vom Institut für Kernphysik der WWU in einem in die Jahre gekommenen Büro, dem man den Rang seines Inhabers nicht ansieht – der Münsteraner ist stellvertretender Leiter des ALICE-Experiments. Forscher von mehr als 130 Instituten aus über 30 Ländern arbeiten an diesem LHC-Experiment mit, darunter Doktoranden, Postdocs und auch Studierende aus Münster.

Der Weg von der Rezeption im Gebäude 33, an der sich Besucher anmelden müssen, in das Büro von Professor Wessels im keine 200 Meter entfernten Gebäude 301 ist eine Herausforderung. Es geht durch verwinkelte Flure mit einer scheinbar endlosen Anzahl an winzigen Büros, durch dunkle Gänge, vorbei an leergeräumten renovierungsbedürftigen Zimmern und Fluren voller Möbel. "Hier zieht ständig jemand um", erklärt der Kernphysiker, der aufsummiert schon Jahre am CERN verbracht hat.  Gebäude Nummer 4 steht neben Nummer 58 ("nachträglich angebaut, ist seit fast 60 Jahren alles historisch gewachsen hier"), Gebäude 1 steht neben 304, in die Jahre gekommen neben modern.

Eine kurze Autofahrt entfernt in Richtung Westen befindet sich St. Genis-Pouilly. In der kleinen französischen Gemeinde liegt hinter Bäumen verborgen ein Gelände mit Containerhallen. Nur das bunte Abbild einer spektakulär großen Maschine auf einer der weißen Hallenwände deutet darauf hin, dass sich innen mehr verbirgt als eine Fabrik oder eine gewöhnliche Lagerhalle. Besucher dürfen nur angemeldet und mit fachkundiger Begleitung eintreten. Johannes Wessels kennt das Terrain, Hunderte von Malen war er schon hier. Tief im Gestein unterhalb der Halle steht "ALICE".
Der Zutritt zu den Experimenten im LHC ist nur möglich, wenn der Beschleuniger nicht läuft, so wie jetzt. Auf dem Weg nach unten folgt Johannes Wessels einem strengen Ritual: bei der Aufsicht anmelden, Helm aufsetzen. Der Chip im Mitarbeiterausweis öffnet dem Münsteraner die erste gläserne Tür einer schmalen Schleusenkammer. Es folgt der "Iris-Scan", bei der die Regenbogenhaut des Auges zur Identifikation fotografiert und vermessen wird. Auch Besucher müssen diese Prozedur durchlaufen. Erst wenn der Computer grünes Licht gibt, öffnet sich die zweite Schleusentür und gibt den Weg frei zum Fahrstuhl nach unten.

Tief unter der Erdoberfläche liegt eine riesige Kaverne wie der Maschinenraum eines gigantischen Schiffes. Inmitten der Leitungen eines weltweit einmalig leistungsstarken Kühlsystems, umgeben von unzähligen Elektrokabeln und verschachtelten Stahltreppen, türmt sich der ALICE-Detektor auf, ummantelt von einem gigantischen Magneten. Die achteckige Konstruktion aus Stahl und hochempfindlichen Messgeräten ist 26 Meter lang, 16 Meter hoch und wiegt mit insgesamt 10000 Tonnen so viel wie der Eiffelturm in Paris. Von der Decke der Kaverne hängen dicke Kranseile – die einzige Möglichkeit, Bauteile nach hier unten zu schaffen, ist ein Schacht oberhalb der Kaverne.

Die Front des Detektorsystems ist während des Shutdowns geöffnet. So sind die verschiedenen Detektoren im Inneren von ALICE sichtbar, die wie die Schichten einer Zwiebel um das Strahlrohr und den Kollisionspunkt herumliegen und die Eigenschaften der nach der Kollision auseinanderfliegenden Teilchen messen. Einer der Detektoren ist "Made in Münster" – die Arbeitsgruppe von Johannes Wessels ist gemeinsam mit Kollegen aus Deutschland, Russland und Rumänien am Bau des sogenannten Übergangsstrahlungsdetektors beteiligt, der Elektronen und Positronen nachweist.

Derzeit sind die Vorbereitungen für das Wiederhochfahren in vollem Gange. "Eine unglaublich professionelle Truppe aus Technikern, Physikern und Ingenieuren ist hier im Einsatz", schwärmt Johannes Wessels und grüßt einen deutschen Physiker-Kollegen, der ausgerüstet mit Laptop und Klettergurt auf dem Weg in das Innere der gewaltigen Maschine ist, um ein defektes Kabel zu finden und zu reparieren. Johannes Wessels arbeitet seit 1995 im CERN. Im Jahr 2008 ging der LHC in Betrieb, von Anfang an ist der münstersche Kernphysiker mit seiner Arbeitsgruppe als einer von acht deutschen Partnern am Experiment  ALICE beteiligt.

Der Kontrollraum oben in der Halle ist während des Shutdowns verweist. Läuft der Beschleuniger, überwachen Wissenschaftler,  Ingenieure und Techniker 24 Stunden am Tag im Schichtbetrieb auf zahllosen Monitoren das laufende ALICE-Experiment. Die Einarbeitung in den Job, den auch viele Doktoranden übernehmen, ist aufwendig, die Verantwortung groß, gerade in den leitenden Positionen – vom reibungslosen Betrieb allein des ALICE-Experiments hängen weit über 1000 Wissenschaftler ab. Der "Period-Run-Koordinator" hat das letzte Wort. Ihn ruft das Team an, wenn es einen Alarm gibt und die Mannschaft nicht weiß, was zu tun ist. Im Routinebetrieb stören Gewitter, denn die führen häufig zu Stromausfällen. Bei größeren Umstellungen am Experiment gibt es auch schon mal häufiger Alarm. Der Koordinator hat täglich 24 Stunden Rufbereitschaft, wochenlang. Währenddessen darf er sich nicht weit vom CERN-Gelände entfernen. "Das ist wirklich ein echter Knochenjob", erinnert sich Johannes Wessels an seine eigene Zeit in dieser Position.

Dr. Eva Sicking bestätigt das. Die 29-Jährige hat eine Forschungsstelle am CERN, ihre Dissertation hat sie als Doktorandin von Prof. Wessels im Rahmen des ALICE-Experiments geschrieben. Dreieinhalb Jahre hat sie in dieser Zeit am CERN verbracht. "Wenn man fünf bis sechs Nachtdienste hintereinander im Kontrollraum macht, ist das anstrengend", berichtet sie. Dennoch brennt sie für ihre Forschung. Inzwischen arbeitet sie an einem anderen CERN-Projekt mit. Ihr Team konzipiert einen Detektor für den Elektron-Positron-Beschleuniger "Compact Linear Collider" (CLIC), der derzeit geplant wird. Die CLIC-Detektoren sollen noch präzisere Ergebnisse liefern als die des LHC – und vielleicht, wenn alles gut geht, in den nächsten Jahrzehnten gebaut werden. "Solche Forschungsprojekte dauern so lange, dass mehrere Generationen von Forschern daran teilnehmen", sagt Eva Sicking, während sie draußen vor der Mensa des CERN sitzt. Die zwei Jahre, in denen der Large Hadron Collider still steht, sind für Kernphysiker ein Wimpernschlag.

Von Christina Heimken


Erschienen in der Mai-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben.
www.uni-muenster.de/unizeitung