Pressemitteilung upm

Helfer der Helfer

Dr. Carsten Keßler entwickelte ein System, das den Informationsaustausch in Krisengebieten verbessert

Münster (upm), 28. Juni 2013

Dr. Carsten Keßler
Dr. Carsten Keßler Foto:

Welches Leid und Chaos in Katas-trophengebieten herrscht, können sich wohl nur diejenigen vorstellen, die es selbst schon erlebt haben. Der Tornado beispielsweise, der im Mai den US-Bundesstaat Oklahoma traf, hinterließ Tod und Verwüstung. In Situationen schlimmster persönlicher Schicksale klingen nackte Zahlen und Statistiken über Verletzte und Tote unemotional und kühl. Doch sie sind existenziell wichtig, um schnelle Hilfe zu garantieren. WWU-Geoinformatiker Dr. Carsten Keßler hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Datenaustausch der Hilfsorganisationen in Katastrophengebieten und damit die humanitäre Hilfe schneller und effektiver zu machen.

Auf die Frage, wie diese Idee entstanden sei, antwortet Carsten Keßler mit Bedacht. Er rührt in seinem Milchkaffee, denkt kurz nach und startet nicht mit einer pathetischen "Ich wollte schon immer helfen"-Floskel. Nein, inspiriert hat ihn ein nepalesischer Erasmusstudent, dessen Masterarbeit er vor knapp zwei Jahren betreute. Minu Limbu arbeitet seit über zehn Jahren in den Krisengebieten der Welt für verschiedene humanitäre Organisationen. Für die United Nations (UN) ist er als "information officer" tätig und berichtete Carsten Keßler, wie mühselig es ist, einen Überblick über die Fülle von Informationen aus Katastrophengebieten zu bekommen und den Informationsfluss zwischen Hilfsorganisationen und Entscheidungsträgern herzustellen.

Das brachte Carsten Keßler auf die Idee, ein System namens "Humanitarian eXchange Language" (HXL) für den Einsatz in Krisengebieten zu entwickeln. "Die Grundidee eines Standards für den Austausch humanitärer Daten gab es schon vorher. Es war nur nicht klar, wie sie sich umsetzen ließ. Die erste Version des Standards habe ich entworfen", schildert Carsten Keßler. Mithilfe des Systems können Daten aufbereitet und unter verschiedenen Akteuren ausgetauscht werden. "Der Datenaustausch wird bei Naturkatastrophen oder bewaffneten Konflikten häufig durch chaotische Umstände erschwert und läuft oft noch manuell", erklärt der Wissenschaftler. Das Ziel von HXL ist, viele dieser Prozesse zu automatisieren, um kostbare Zeit für die Helfer vor Ort zu sparen und den Entscheidungsträgern verlässliche Quellen zu liefern, um Hilfsmaßnahmen einzuleiten.

Wie viele Menschen sind obdachlos und ohne Trinkwasserversorgung? Wie viele Häuser wurden zerstört? Wie viele Personen benötigen ärztliche Hilfe? Welche Lebensmittel wurden verteilt? Antworten auf diese Fragen speichern das Deutsche Rote Kreuz, das UN-Flüchtlingshilfswerk, UNICEF und andere internationale und lokale Hilfsorganisationen oft in Tabellenform. "Information officer" arbeiten nach einer Katastrophe oft Tage und Nächte daran, diese Informationen zusammenzutragen, um ein möglichst vollständiges Bild der Lage in Form von Landkarten und Grafiken zu erstellen.

"Ich wünschte, die Informationen würden noch viel mehr genutzt", betont der Geoinformatiker. Es  gibt bereits ein gutes Netzwerk: Die Freiwilligenorganisation "Crisis Mappers" stellt digitales Kartenmaterial für jedermann im Netz zur Verfügung, so geschehen zum Beispiel nach dem Erdbeben 2010 in Haiti. Die Idee hinter dem Konzept ist, dass eine große Masse an Freiwilligen die betroffenen Gebiete viel schneller kartieren kann als eine Hilfsorganisation das könnte. Und das zeigt Wirkung: Viele Universitäten haben großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit den "Crisis Mappers".

Er arbeitet bislang nicht für die "Crisis Mappers", aber die Gespräche mit Minu Limbu inspirierten ihn, sich dort konkrete Anregungen zu holen, um den Bereich Disaster Management am Institut für Geoinformatik als Forschungsthema aufzunehmen. "Deshalb haben wir 2011 an einer Konferenz der Crisis Mappers in Genf teilgenommen", erzählt Carsten Keßler, "dort habe ich auch meine jetzigen Kollegen bei der UN kennengelernt." Nach der Konferenz machten diese ihn auf die Ausschreibung einer Beraterstelle aufmerksam, auf die er sich erfolgreich bewarb.

Seit 2012 arbeitet Carsten Keßler neben seiner Tätigkeit an der WWU als Berater für das United Nations Office of the Coordination of Humanity Affairs (OCHA) in Genf. "Es ist eine eher ungewöhnliche Beratertätigkeit – ich musste nur fünf oder sechs mal für ein paar Tage nach Genf reisen", erzählt der verheiratete Vater von zwei Kindern, "den Großteil meiner Arbeit kann ich zum Glück von Münster aus erledigen." Im Herbst 2012 arbeitete er zudem an der Programmierung der Campusplan-App der Uni Münster. "Da steckt die selbe Technologie drin wie im HXL", erklärt Carsten Keßler. Sie findet Wege und Hörsäle, ermöglicht die mobile Literaturrecherche und hält Informationen über die WWU bereit. Die App ist ein Ergebnis des Linked Open Data University of Münster (LODUM) Projektes, in dem er sich zusammen mit seinen Kollegen um die Öffnung der Daten der WWU kümmert.

Zu Minu Limbu hält Carsten Keßler auch heute noch Kontakt. "Er arbeitet gerade in Kenia für UNICEF", erzählt er. "Ich habe großen Respekt vor Menschen, die in Krisengebieten arbeiten. Für mich kommt das – spätestens seit ich Kinder habe – nicht in Frage." Da seine Aufgabe sehr technisch ist, könne er die menschlichen Schicksale relativ gut ausblenden. "Das Wichtigste ist, dass ich den Helfern vor Ort die Arbeit erleichtere – es geht um Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit", betont der Wissenschaftler. Trotz der theoretischen Ausrichtung seiner Arbeit, hat Carsten Keßler auch einige praktischen Kenntnisse. Vor Beginn seiner Arbeit bei der UN absolvierte er den obligatorischen Online-Lehrgang "Basic Security in the Field". "Ich weiß nun, was ich tun muss, wenn mein Auto beschossen wird", sagt er lachend und trinkt den letzten Schluck seines Kaffees.

Den wird der Geoinformatiker bald woanders trinken. Vielleicht in der Nähe des Central Parks. Die City University of New York bot ihm eine Professur an - er sagte zu. Ab August arbeitet Carsten Keßler in fußläufiger Nähe zum UN-Hauptquartier– ein Umstand, der ihm gelegen kommt: "Wir konnten das Management mittlerweile davon überzeugen, dass der Ansatz von HXL funktioniert und es sich lohnt, in dieses System und die Weiterentwicklung zu investieren." In New York werde gerade eine Gruppe mit mehreren festen Mitarbeitern und Beratern für den Bereich "Data and Analysis" eingerichtet. Carsten Keßler ist mit von der Partie und wird weiter programmieren und optimieren - als Helfer der Helfer in Krisengebieten der Welt.

Dieser Artikel von Caroline Frank ist in der Juni-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben erschienen.


Humanitarian Response LODUM-Projekt der Uni Münster Uni-Zeitung wissen|leben