Pressemitteilung upm

Am virtuellen Politikstammtisch

Wirtschaftsinformatiker erforschen, wie politische Themen vor der Bundestagswahl im Netz diskutiert werden

Münster (upm), 23. Juli 2013

Würde die Kanzlerwahl über die in sozialen Netzwerken erzeugte Aufmerksamkeit entschieden, dann hätte Bushido vielleicht gute Chancen auf den Job von Angela Merkel. Der Rapper war von Berliner Politikern kritisiert worden und revanchierte sich mit Gehässigkeiten, die von seinen Followern massenweise geteilt wurden. Im April zählte er zu den am häufigsten "retweeteten" Akteuren.

"Wir wollen keine Wahlprognose erstellen. Uns interessiert, wie politische Themen im Netz wahrgenommen werden.“

So rutschte er auch in die Auswertung des Online-Rankings Politik und Wirtschaft (ORPW 2013), an dem die Forschungsgruppe Kommunikations- und Kollaborationsmanagement der Uni Münster maßgeblich beteiligt ist. Ohne Frage ein kurioses Ergebnis, aber keineswegs unseriös. Der Leiter der Forschungsgruppe Prof. Stefan Stieglitz erklärt, warum ein Deutschrapper im April genauso beachtet wird wie die Tweets von Thomas Oppermann, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, zu den Eurohawk-Drohnen einen Monat später: "Wir wollen ausdrücklich keine Wahlprognose erstellen, sondern uns interessiert, wie politische Themen im Netz diskutiert werden."

Für dieses Ziel sammeln die Forscher zunächst jede Menge Daten. Ein so genannter Tracker scannt die Änderungen an 30 ausgewählten Wikipedia-Artikeln mit politischem Inhalt, speichert die Kommentare auf tagesschau.de und die Einträge und Antworten von rund 100 politischen Blogs. Hinzu kommen knapp eine Million Tweets, die monatlich in das "Sammelbecken" aufgenommen werden, weil sie eines von 350 Schlüsselwörtern enthalten. Danach erfolgt die "Sentiment-Analyse", die alle gesammelten Daten gegen eine Liste von Begriffen mit emotionaler Ladung abgleicht. Die Algorithmen, mit denen die Daten angelegt und analysiert werden, wurden in den vergangenen Jahren bei den Wirtschaftsinformatikern der WWU entwickelt. In Kooperation mit Kommunikationswissenschaftlern der Ludwig-Maximilians-Universität in München finden die Forscher dann beispielsweise eine Antwort auf die Frage: Wie bewerten die Netznutzer Uli Hoeneß‘ Steuerflucht? Und wie seine Selbstanzeige?

Man könnte erwarten, dass die Diskussion im Schutze der Anonymität des Internets eher hitzig verläuft. Der Duden hat nicht zuletzt das Wort Shitstorm gerade in seine neueste Auflage aufgenommen. Doch auch am virtuellen Politik-Stammtisch bleibt der Ton meist gesittet. "Dabei ist die Netzgemeinde teilweise sogar vielfältiger als die etablierten Massenmedien", betont Stefan Stieglitz. "Wenn in den Tageszeitungen Politiker wie Christian Wulff oder Peer Steinbrück teilweise einseitig betrachtet wurden, herrschte in der Internetkommunikation bisweilen ein breiteres Meinungsspektrum."

Während die Wirtschaftsinformatiker mit zwei Großrechnern das abgreifen, was die Menschen in der Online-Welt öffentlich zur Verfügung stellen, wird in der Scharnhorststraße bei den Soziologen nach wie vor einzeln abgefragt. Aktuell wird bereits ein kleiner Trend erhoben. Ab Ende August wählt die Forschungsgruppe Befragung, Evaluation, Methode und Analyse (BEMA) wieder drei Wochen lang unzählige hiesige Festnetznummern und bittet um die telefonische Teilnahme an der repräsentativen Wahlumfrage. Das Münster-Barometer ist eine der ältesten lokalen Befragungen, die es in Deutschland gibt. Die klassische Sonntagsfrage als Prognose-Instrument hat also auch in Zeiten des Internets nicht ausgedient – im Gegenteil: "Bei den Vorhersagen waren wir in den vergangenen Jahren immer ziemlich gut", erklärt Dr. Marko Heyse, der die Studien federführend konzipiert.

Neben dem typischen Aufschlüsseln der Wahlentscheidung nach Bevölkerungsgruppen beschäftigen sich auch die Soziologen mit der Frage, welche Themen den Bürgern wichtig sind. Die Journalisten der Westfälischen Nachrichten liefern als Abnehmer der Umfrage und Experten für Lokalpolitik Anstöße. Nicht selten spielt dabei auch ein "soziales Medium" der ganz alten Schule eine Rolle: die Leserbrief-Seiten. Für Marko Heyse gilt hier aber das gleiche wie für Blogs auch: "Nur weil ein Thema heftig diskutiert wird, heißt das nicht, dass es wahlbeeinflussend ist." Der Internet-Überwachungsskandal oder die flügellahmen Drohnen des Verteidigungsministers müssten also bis zur Bundestagswahl im September ein Thema im Wahlkampf werden.

Genau bei dieser Frage, nämlich welche Themen auf der Agenda bleiben, wagt die interdisziplinäre Forschungsgruppe Kommunikations- und Kollaborationsmanagement eher einen Blick in die Glaskugel. Anhand der Fieberkurve des von Edward Snowden enthüllten Skandals meint Malte Landwehr, Informatiker und Mitarbeiter von Stefan Stieglitz: "Im Juli wird sehr wahrscheinlich das Thema der Netzüberwachung durch die Geheimdienste dominieren."

"In den Volksparteien gibt es immer noch Politiker, die nur dann twittern, wenn eine Wahl bevorsteht.“

Wer oder was sich sonst noch durchsetzt, ist schwerer zu sagen. Angela Merkel scheint vor allem mit ihrer Aussage zum Internet als "Neuland" eine Kandidatin für weitere Diskussionen im Netz zu sein. Allerdings ist das wohl immer noch glaubwürdiger als Politiker, die Twitter nur benutzen, weil die Bundestagswahl naht. "Für gewöhnlich sind die Politiker der Piraten präsenter im Netz als die anderer Parteien", erklärt Malte Landwehr, "in den großen Volksparteien gibt es immer noch Politiker, die nur dann twittern oder in ihrem Namen twittern lassen, wenn eine Wahl bevorsteht." Allerdings führt beides meistens zu einem starken Authentizitätsverlust bei der Netzcommunity. Es sei denn, man twittert schon lange wie beispielsweise Bundesumweltminister Peter Altmaier. Was Politiker und ihre Kommunikation angeht, sind sich das Internet und die übrige Öffentlichkeit also ähnlich: Erfolgreich ist, wer es schafft, authentisch zu wirken. Im Zweifelsfall sollte man das Twittern möglicherweise lieber Bushido überlassen.

Dieser Artikel von Christian Erll ist in der Juli-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben erschienen.

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