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Münster (upm/hd)
Ausgezeichnete Arbeit: Dr. Emanuel Towfigh (Mitte) erhielt jüngst den Nachwuchsförderpreis für seine Habilitation.<address>© WWU-Peter Grewer</address>
Ausgezeichnete Arbeit: Dr. Emanuel Towfigh (Mitte) erhielt jüngst den Nachwuchsförderpreis für seine Habilitation.
© WWU-Peter Grewer

"Parteiendemokratie hat sich überlebt"

Interview: Emanuel Towfigh plädiert in seiner ausgezeichneten Habilitation für die Weiterenwicklung der demokratischen Ordnung

Für viele Leser dürfte die zentrale These von Dr. Emanuel Vahid Towfigh mindestens erklärungsbedürftig klingen: Die Demokratie ist seiner Überzeugung nach ohne Parteien nicht nur vorstellbar, sondern auch wünschenswert. Norbert Robers sprach mit dem 36-jährigen Juristen und WWU-Lehrbeauftragten über den Inhalt seiner Habilitationsschrift, die den Titel "Das Parteienparadox – Ein Beitrag zur Bestimmung des Verhältnisses von Demokratie und Parteien" trägt.

Sie beschreiben in Ihrer Habilitation über die Demokratie und die Parteien ein Paradox – was ist an diesem System paradox?

Einerseits brauchen wir die Parteien, um beispielsweise die Diskussion zu strukturieren, um Interessen zu bündeln und um zu Entscheidungen zu kommen. Andererseits führt die bloße Existenz der Parteien dazu, dass der gemeinschaftliche Wille verfälscht wird und dass Sonderinteressen verfolgt werden …

… dass also in letzter Konsequenz Politik am Volk vorbei gemacht wird?

Ja, das kommt nicht selten vor. Ein Beispiel: Die Muttergesellschaft eines großen Hotelkonzerns leistet Parteispenden an CSU und FDP. Kurz darauf senkt die CDU/CSU-FDP-Regierung den Mehrwertsteuersatz für Hotelübernachtungen von 19 auf sieben Prozent. De facto handelte es sich aber um eine Preiserhöhung von 12 Prozentpunkten, da die Hoteliers die Senkung keineswegs an ihre Kunden weitergegeben haben. Die schleswig-holsteinische Regierung schätzt, dass dadurch jedes Jahr rund 960 Millionen Euro an Steueraufkommen verloren gehen – zu Lasten der Allgemeinheit.

Verhalten sich alle Parteien so – oder gibt es diesbezüglich gute und schlechte Parteien?

Nein, in diesem Punkt verhalten sich alle Parteien ähnlich. Die Grünen wollten sich dem anfangs als "Anti-Parteien-Partei" widersetzen, irgendwann haben sie sich aber mit den Spielregeln arrangiert. Das hat auch nichts mit einer vermeintlich Charakterschwäche von Politikern oder mit Korrumpierbarkeit zu tun. Dieses Verhalten ist die logische Konsequenz des politischen Systems: Wir verstehen Demokratie vor allem als das Durchsetzen von Interessen im Wettbewerb, und das führt notwendigerweise zu den geschilderten Effekten. Das ist der Kernfehler unserer Parteiendemokratie.

Was finden Sie denn am Wettbewerb von Ideen und Interessen verwerflich?

Nichts. Entscheidend aber ist, dass viele Negativ- erscheinungen in der Demokratie, die wir parallel beobachten, letztlich auf diesen partei- politischen Interessenswettbewerb zurückzuführen sind. Etwa dass das Ansehen der Politiker immer stärker schwindet, was auch daran liegt, dass die Politiker − wegen des Wettbewerbs − schlecht übereinander reden. Es wird deswegen immer schwieriger, politisches Personal zu gewinnen, zudem sinkt die Wahlbeteiligung. Das sind konkrete Gefahren für die Demokratie, die sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verstärkt haben.

Und deswegen plädieren Sie für eine parteienlose Demokratie?

Ich plädiere vor allem dafür, die Figur des Amtsträgers zu stärken und von den Parteien zu entkoppeln. Wir sollten mehr Möglichkeiten schaffen, Menschen unser Vertrauen zu geben, ohne dass sie nahezu zwingend eine Partei im Rücken haben. Heute muss sich jeder ambitionierte Politiker über eine sogenannte Ochsentour nach oben arbeiten – dann entscheidet die Partei, ob er ausreichend auf Linie ist und deswegen weiter gefördert wird. Die Parteilinie ist nicht selten wichtiger als der persönliche Sachverstand – andernfalls gefährdet jeder Bewerber seine berufliche Existenz.

Sie plädieren für einen Systemwechsel?

Der Begriff ist mir zu drastisch. Ich plädiere für eine behutsame Weiterentwicklung unserer demokratischen Ordnung. Behutsam, weil die Demokratie ein fragiles und wertvolles System ist. Wir leben zudem in Frieden und Wohlstand, wir genießen eine stabile Ordnung. Dies ist auch ein Verdienst der Parteien, die nach dem Krieg ein Stabilisator des Systems waren. Aber die Parteiendemokratie hat sich offenkundig überlebt, die Nachteile dieses Systems werden immer deutlicher sichtbar.

Wie ließen sich stattdessen die demokratischen Prozesse ohne Parteien organisieren?

Wir sind davon überzeugt, dass Parteien und Demokratie zusammengehören. Bei den Hochschulen, Kirchen und großen Anwaltskanzleien kann man aber Folgendes beobachten: Auch dort gibt es demokratisch legitimierte Entscheidungen, ohne dass es kontinuierlich kooperierende Personal-Blöcke gibt. Meine Kernthesen lauten daher: Wir sollten erstens Kandidaturen unterbinden. Wir sollten zweitens auf lokaler Ebene mit kleinen Veränderungen anfangen, weil dort die Zusammenhänge überschaubarer sind und weil lokale Politiker ein vergleichsweise hohes Ansehen genießen. Wir könnten drittens auf diese Weise lernen, welche Institutionen und Regeln gut funktionieren und welche nicht. Parallel dazu könnten wir eine neue Kultur der demokratischen Entscheidungssuche üben.

Zum Beispiel?

Es gibt in anderen Ländern, aber auch in einzelnen deutschen Kommunen bereits Modelle, etwa die sogenannte Planungszelle. Man wählt beispielsweise zufällig Bürger einer Stadt aus und lässt sie über ein Problem beraten. Der Rat der Stadt darf das Votum dieses Gremiums nur aus gewichtigen Gründen ablehnen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Die Bürger haben in erster Linie sachliche und keine parteipolitischen Interessen, meist kommen sie sogar zu einem einheitlichen Ergebnis. Das ist mein evolutionärer Ansatz: Wir sollten mit derartigen Modellen weiter experimentieren und damit unser System von unten nach oben weiterentwickeln.

Ein System, in dem es auch weiterhin Wahlen und Wettbewerb gibt?

Selbstverständlich. Aber wir müssen die Interessen vom parteipolitischen Wettbewerb lösen. Das Grundgesetz schreibt zwei Entscheidungs- Muster vor: Wahlen von Personen und Abstimmungen über Sachfragen. In unserem System gibt es mittlerweile aber nur noch Wahl-Abstimmungen. Wenn wir an die Wahlurnen gehen, stimmen wir über Personen und gleichzeitig über Parteiprogramme, also über Sachfragen ab. Wir sollten zu einem System kommen, in dem wir uns überlegen: Wer ist die vertrauenswürdigste Person, der ich zutraue, dass sie das Gemeinwohl im Blick hat? Diese Person sollte aber nicht wissen, wer für sie gestimmt hat – sie fühlt sich also niemandem verpflichtet.

Dieses Interview ist in der Juli-Ausgabe der Uni-Zeitung wissen|leben erschienen.