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Münster (web)
Beliebte Literatur: Die Bibliothek im Haus der Niederlande der WWU hält für Studierende und Gäste ein breites Angebot vor.<address>© WWU - Peter Grewer</address>
Beliebte Literatur: Die Bibliothek im Haus der Niederlande der WWU hält für Studierende und Gäste ein breites Angebot vor.
© WWU - Peter Grewer

Eine Sprache ist mehr als nur eine Sprache

Die Niederlande und Flandern sind Gastländer auf der Frankfurter Buchmesse: Ein Gastbeitrag über die Popularität niederländischer Literatur

Seit 1993 sind die Niederlande und Flandern als eine der drei Regionen des Königreichs Belgien Gastländer auf der Frankfurter Buchmesse. Auf der diesjährigen Buchmesse, die vom 19. bis 23. Oktober geöffnet ist, sind Flandern und die Niederlande sogar gemeinsamer Ehrengast. Unter dem Motto „Dit is wat we delen“ („Dies ist, was wir teilen“) präsentieren sie nicht nur Romane, Sachbücher und Lyrik, sondern auch neue Formen der Buchkunst, der Kreativindustrie und anderer Kunstrichtungen.

„Geborene Übersetzer werden ausgebildet.“ Das war der Gedanke hinter dem 1999 eingerichteten Zusatzstudiengang „Literarisches Übersetzen aus dem Niederländischen“, der inzwischen als Schwerpunkt innerhalb des Masters Interdisziplinäre Niederlandistik am Institut für Niederländische Philologie angeboten wird. Im Wintersemester 2016/17 wird es acht neue Masterstudenten geben. Sie wählen zwischen dem Schwerpunkt SLiK (Sprache, Literatur und Kultur), bei dem der Fokus auf dem breiteren interdisziplinären Kontext liegt, und Literarischem Übersetzen. Das Programm bietet theoretische Seminare zur Übersetzungsgeschichte und -wissenschaft, zu Kulturtransfer und interkultureller Kommunikation, sowie die Möglichkeit, zusammen mit erfahrenen literarischen Übersetzern – in diesem Semester Rainer Kersten – die Kniffe der Übersetzungsarbeit kennenzulernen. Die Studierenden schätzen vor allem die Verknüpfung von Theorie und Praxis und die interkulturelle Perspektive auf den niederländischen und flämischen und deutschen Sprach- und Kulturraum.

Für die Niederlandistik in Münster ist die Ausbildung Literarisches Übersetzen eine wichtige Bereicherung. Im Prinzip haben wir sie der Frankfurter Buchmesse von 1993 zu verdanken. Nachdem in den 1990er-Jahren im Zuge der Buchmesse deutsche Übersetzungen niederländischer Autoren einen so großen Anklang fanden, schloss man daraus, dass es in Deutschland eine Ausbildung Literarisches Übersetzen NL – D geben sollte. Abgedeckt wurde dieser Wunsch mit der in Münster gegründeten Professur für moderne niederländische Literatur, auf die ich 1999 berufen wurde. Als Belgierin habe ich persönliche Erfahrungen mit Mehrsprachigkeit und bin mir des bereichernden Einflusses von Fremdsprachen bewusst.

Denn eine Sprache ist mehr als eine Sprache. Das kommunikative Verhalten von Menschen wird unbewusst durch interkulturelle Unterschiede und Feinheiten beeinflusst. Und nichts eignet sich besser für eine Reflexion darüber als das Übersetzen. In der Übersetzungswissenschaft spricht man von der literarischen Übersetzung als Medium für „Fremderfahrung“, die Erfahrung, dass eine Fremdsprache auch Einsicht in die andere Kultur, die Umgangsformen und Denkweisen mit sich bringt. Das gilt für das Niederländische in erhöhtem Maße, denn es ist eine Sprache, die in zwei Ländern gesprochen wird. „Ob es nun eine Kluft zwischen Flandern und den Niederlanden gibt oder nicht, wir beeinflussen einander in jedem Fall, wir teilen uns nämlich eine Sprache“, betont der flämische Autor Bart Moeyaert, der in diesem Jahr Intendant der Frankfurter Buchmesse ist.

Das ist es, was das literarische Übersetzen so komplex macht – es geht um weit mehr als reine sprachliche Verschiedenheiten. Wir wissen, dass Deutsche mit dem Auto „fahren“, während Niederländer ein Boot brauchen, um zu „varen“, aber die Unterschiede in den Gewohnheiten und Details, die eine Sprache in sich trägt, sind beim Übersetzen viel schwerer greifbar und verräterischer. Sie werden in den Diskussionen und Übersetzungsworkshops ausführlich besprochen und die Studenten erfahren sie während Praxisperioden in den Niederlanden oder in Flandern am eigenen Leibe.

Inzwischen hat die niederländischsprachige Literatur einen wichtigen Platz in Deutschland erobert. „Der deutsche Markt ist bei weitem der wichtigste für Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur, sowohl in der Anzahl als auch in Verkaufszahlen“, meint der Fonds der Nederlandse Letteren – eine Organisation, die Übersetzungen niederländischer Literatur in alle anderen Sprachen anstößt und unterstützt. Autoren wie Harry Mulisch, Margriet de Moor oder Cees Nooteboom kommen vielen deutschen Lesern ebenso bekannt vor wie die neuere Generation um Saskia de Coster, Arnon Grunberg, Dimitri Verhulst und Bart Moeyaert. Zuletzt wurden pro Jahr durchschnittlich 30 Übersetzungen von Romanen auf Deutsch herausgegeben. Das sind für ein kleines Sprachgebiet wie das niederländische auffallend viele. Entsprechend viele Experten gibt es mittlerweile, die vom Niederländischen ins Deutsche übersetzen. Aber auch sie werden natürlich älter, sodass es an der Zeit ist, neue und vor allem jüngere Übersetzer zu finden, die auch in Jugendkulturen und -sprachen heimisch sind.

Warum findet die Literatur aus den Niederlanden und Flandern in Deutschland so viel Anklang? Das ist die Gretchenfrage, auf die es bislang noch keine eindeutige Antwort gibt. Es gibt viele mögliche Erklärungen: die Mischung aus Tiefgang und Leichtigkeit, der erzählende Charakter, ein Hauch von Exotik, die doch sehr nah ist, oder der der niederländischen Literatur zugeschriebene kosmopolitische und „weltoffene” Charakter – das war übrigens das Motto, das 1993 über dem Schwerpunktpavillon prangte.

Wie dem auch sei, Literaturübersetzer müssen sowohl ihre Ziel- als auch ihre Muttersprache ausgezeichnet beherrschen. Sie müssen Kulturvermittler sein und zudem gute Literaturleser, denn die Vorstellung, dass eine Übersetzung immer einen Verlust bedeutet, teile ich nicht. Im Gegenteil: Eine gute Übersetzung bereichert das Original. Das ist der Grund dafür, warum eine Ausbildung zum literarischen Übersetzer anspruchsvoll, aber auch sehr vielseitig und spannend ist.

Lut Missinne

 

Dieser Artikel stammt aus der Universitätszeitung "wissen|leben" Nr. 6, 12. Oktober 2016. Die Autorin ist Professorin am Institut für Niederländische Philologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen autobiographisches Schreiben, Literaturgeschichte und niederländische Literatur in deutscher Übersetzung.

 

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