„Frieden in der Ukraine erst dann, wenn Russland die Ukraine akzeptiert“

Interview mit Osteuropa-Historikerin Ricarda Vulpius über historische Friedensschlüsse und Lehrern daraus für heute – „Minimalbedingungen für Verhandlungen zur Ukraine nicht gegeben“ – Vorbild Westfälischer Frieden vor 375 Jahren – Rolle der Religion in der Ukraine untergeordnet

Osteuropa-Historikerin Prof. Dr. Ricarda Vulpius
© Emilia Bachmann

Der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ untersucht seit Jahren historische und gegenwärtige Kriege und Konflikte sowie Strategien und Symbole des Friedens. Das Symposium „Den Frieden gewinnen seit 1648 – historische und politische Perspektiven auf die Gegenwart“  beleuchtet die Frage, was sich aus historischen Friedensschlüssen wie dem Westfälischen Frieden im Jahr 1648 für aktuelle Kriegslagen lernen lässt. Zu der Veranstaltung am 16.10.2023 in Münster laden das LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, der Exzellenzcluster und die Stadt Münster im Jubiläumsjahr „375 Jahre Westfälischer Frieden“ ein. Ein Interview mit Osteuropa-Historikerin Prof. Dr. Ricarda Vulpius vom Exzellencluster. 

Wie lässt sich Frieden in der Ukraine schaffen? 

Frieden in der Ukraine kann erst geschaffen werden, wenn beide Seiten sich grundsätzlich in ihrer Existenz akzeptieren. Solange die russische Regierung die ukrainische Regierung als Verhandlungspartner ablehnt, kann es auch keine Friedensverhandlungen geben. Dies ist für den Start von Verhandlungen das größte Hindernis. 

Chancen für Verhandlungen ergeben sich dann, wenn die russische Regierung unter Druck gerät: entweder außenpolitisch, indem Russland eine Niederlage auf den Schlachtfeldern in der Ukraine droht, oder innenpolitisch, wenn Proteste gegen die Fortführung des Krieges zunehmen und ein weiterer Blutzoll als zu risikoreich für die innenpolitische Stabilität angesehen wird. 

Der Westfälische Frieden gilt als Vorbild für einen nachhaltigen Frieden in komplexer Kriegslage. Worin kann er heute Vorbild sein?

Wichtig ist es, auf die Bedingungen zu schauen, die einen Verhandlungsbeginn der Kriegsparteien ermöglichten, nämlich die Entstehung eines militärischen Patts. Keine der damaligen Kriegsparteien sah für sich noch die Chance, bedeutsame Geländegewinne mit tragbaren Kosten an Menschenleben und Material zu erringen. Hinzu kam nach Jahrzehnten der Kampfhandlungen und Verwüstungen die Kriegsmüdigkeit.

Der Westfälische Frieden ist für heute für die Beilegung jeglicher Kriege insofern großes Vorbild, als er eine dauerhafte neue Sicherheitsordnung schuf, eine Ordnung, die nicht beim nächstbesten Anlass wieder zerbrach. Dies wurde dadurch erreicht, dass die divergierenden Interessen bis in die Details austariert und zugleich Sicherheiten geschaffen wurden, die dafür sorgten, dass sich alle Vertragspartner an die Abmachungen hielten.

Wo liegen Parallelen, wo Unterschiede zwischen damals und heute?

Eine Parallele könnte dann eintreten, wenn auch im russisch-ukrainischen Krieg ein militärisches Patt eintritt. Auch wenn es derzeit bereits für manche Außenstehende genau danach aussieht, trügt dieser Eindruck. 

Der größte Unterschied liegt darin, dass die russische Seite bislang noch kein Signal ausgesendet hat, an Verhandlungen auf der Suche nach einem gerechten Frieden interessiert zu sein. Der zweite große Unterschied besteht darin, dass keiner der Kriegsparteien des Dreißigjährigen Krieges einer oder mehreren Parteien die Existenzberechtigung abgesprochen hatte.

Der dritte große Unterschied besteht darin, dass Russland Atommacht und damit grundsätzlich unbesiegbar ist. Dies schafft eine Asymmetrie gegenüber der Ukraine, die ihre Atomwaffen fatalerweise gegen das Versprechen in Form des Budapester Abkommens von 2004 abgegeben hatte. In diesem Abkommen hatte sich Russland verpflichtet, fortan die territoriale Unversehrtheit der Ukraine zu achten. 

Welche Rolle spielt die Religion und welche das Zusammenspiel religiöser und politischer Kräfte?

Die Religion spielt in dem Krieg Russlands gegen die Ukraine insofern eine untergeordnete Rolle, als es keine grundlegenden religiösen Gegensätze zwischen den Kriegsparteien gibt. Die Unterschiede beziehen sich nahezu ausschließlich auf die kirchenpolitische Dimension, also auf die Frage, ob die orthodoxe Kirche in der Ukraine der Russisch-Orthodoxen Kirche jurisdiktionell unterstehen müsse oder selbstständig, autokephal, existieren könne.

Vor dem Hintergrund der Autokephalie, die das Patriarchat von Konstantinopel der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) 2019 verliehen hat, hatten sich die kirchenpolitischen Fronten zwischen Moskau und Kiew jedoch bereits vor dem Krieg erheblich verhärtet. Hinzu kommt, dass es neben der OKU in der Ukraine auch noch die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) gibt, die sich zwar vom Moskauer Patriarchat „unabhängig“, bis heute aber nicht in letzter Konsequenz autokephal erklärt hat. Zwischen der OKU und der UOK sowie vor allem zwischen der ukrainischen Regierung und der UOK ist es seit Kriegsbeginn zu verschärften Auseinandersetzungen gekommen.

Aus welchen historischen Friedensschlüssen lässt sich noch lernen?

Eine wichtige Formel des ersten Passierscheinabkommens von 1963 zwischen der DDR und der Bundesrepublik lautete „We agree to disagree“. Dies war eine Formel, die es ermöglichte, bestimmte Aspekte, über die man sich nicht einigen konnte, auszuklammern, und mit Verhandlungen über andere Aspekte fortzufahren anstatt aufgrund der partiellen Uneinigkeit alles andere vollständig zu blockieren. Natürlich ging es damals nicht um die Beendigung eines „heißen“ Krieges. Gleichwohl ist es sicherlich hilfreich, dieses Vorgehen für den Beginn von Verhandlungen auch zur Beendigung des russisch-ukrainischen Krieges im Hinterkopf zu behalten. Zugleich kann diese Formel natürlich nicht eingesetzt werden, wenn es um die Voraussetzungen für Verhandlungen überhaupt, also um Fragen der grundsätzlichen Akzeptanz des Anderen als Verhandlungspartner geht.

Nützt es etwas, Fragen der Gegenwart an die Geschichte zu richten?

Es ist unbedingt hilfreich, Vorstellungswelten und Praktiken vergangener Zeiten zu analysieren. Zum einen wird dem Menschen erst dann bewusst, wie zeitgebunden und damit wandelbar seine eigenen Vorstellungen sind. Damit geht eine gesunde Demut vor der Menschheit und der Schöpfung einher. Zum anderen wird das Gewordensein der Gegenwart dadurch erst verständlich. Ohne die Voraussetzungen der Gegenwart zu verstehen, kann auch kein Frieden gefunden werden. Dies gilt ganz besonders für den aktuellen russisch-ukrainischen Krieg. (vvm/tec)