Apocalypse goes digital

Interview mit Lutz Doering und Florian Neitmann über die Digitale Edition und intertextuelle Analyse des 4. Esrabuches

Florian Neitmann und Prof. Dr. Lutz Doering
© Michael Möller

„Die digitale Apokalypse“ – das ist kein weiteres Untergangsszenario, sondern Ziel eines Projekts zum 4. Esrabuch, einer antiken jüdischen apokalyptischen Schrift. Da diese in vielen verschiedensprachigen Versionen vorliegt, wird in dem Projekt eine digitale Edition erarbeitet, die einen möglichst anschaulichen Zugang zu dieser komplex überlieferten Schrift ermöglicht. Um dann auch untersuchen zu können, wie die Schrift mit verschiedenen antiken Kulturen verflochten ist, wird die digitale Edition zu einer Annotationsplattform erweitert, auf der eine globale Forschungscommunity ihre Beobachtungen austauschen und vernetzen kann.    

Was ist der Gegenstand Ihres DH-Projektes am Exzellenzcluster, und welche Frage soll es mittels DH-Methoden beantworten?

Der Titel unseres Projektes ist „Transkulturelle Verflechtungen und Entflechtungen in der jüdischen Apokalyptik“. Die jüdische Apokalypse, auf der zunächst unser Fokus liegt, ist das 4. Esrabuch. Dieses ist nicht im Original, sondern nur in verschiedenen christlichen Übersetzungen überliefert, zum Beispiel im Lateinischen, Syrischen und Altäthiopischen, insgesamt in sieben Sprachen (im Arabischen dabei mit dreifacher Übersetzung). Aufgrund dieser komplizierten Überlieferungslage besteht die erste Aufgabe unseres Projekts darin, eine Edition des 4. Esrabuchs zu erstellen, in der sich die verschiedenen Versionen anschaulich nebeneinanderstellen und vergleichen lassen. Dies kann sinnvollerweise nur in einer digitalen Edition geschehen. Sobald das erreicht ist, können wir uns der zweiten Aufgabe widmen, die aus dem Projekttitel hervorgeht: der Kontextualisierung des 4. Esrabuches in einem transkulturellen Umfeld. Die Leitfrage ist also, welche Beziehungen zwischen dem 4. Esrabuch und anderen Apokalypsen sowie über den jüdischen Kontext hinaus zu verschiedenen kulturellen Traditionen bestehen. Diese Frage gehen wir mit einer Datenbank zum Annotieren von Texten an.   

Wie sehen die DH-Methoden konkret aus, wenn Sie sie in Ihrem Projekt anwenden?

Für die erste Aufgabe, die digitale Edition, müssen die verschiedenen Versionen des 4. Esrabuches samt deutscher Übersetzung in das passende Dateiformat überführt werden. Um diese Versionen so nebeneinanderstellen zu können, dass immer jeweils der gleiche Abschnitt zu sehen ist, muss dieses Dateiformat die Einteilung in Kapitel und Verse mit eingespeichert haben und abrufbar machen können. Dafür eignet sich das XML-Format. Da es in den unterschiedlichen Versionen auch noch Varianten zwischen den Handschriften gibt, müssen diese ebenfalls in dem Dateiformat ausgezeichnet sein. Auch dies wird durch das XML-Format ermöglicht. Der nächste Schritt besteht dann darin, die Datenbank mit diesen XML-Dateien auf einer Website in eine anschauliche Graphik-Oberfläche zu überführen, auf der sich die verschiedenen Versionen samt Übersetzung in Tabs ein- und ausblenden lassen und die Varianten aus abweichenden Handschriften durch Hyperlinks in Pop-Up-Fenstern geöffnet werden können.

Für die zweite Aufgabe, die transkulturell vergleichende Forschung, erweitern wir die Datenbank dann so, dass sich einzelne Wörter und Textstellen annotieren, d.h. markieren, mit Schlagworten versehen, kommentieren und mit anderen Quellen verlinken lassen. Wenn man dabei im Frontend etwas annotiert, wird im Backend die XML-Datei um weitere Informationen (Tags) ergänzt. Um die Informationen, die dadurch entstehen, zu strukturieren und abrufbar zu machen, beinhaltet die Annotationsdatenbank zugleich eine Semantic Web-Komponente. Darin werden die verschiedenen Elemente, die annotiert wurden (Begriffe, Themen, Motive, Textstellen, grammatische Strukturen und intertextuelle Bezüge) kategorisiert und miteinander in Beziehung gesetzt. Per Suchfunktion (Query) lässt sich die so anwachsende Wissensdatenbank dann nach je eigenen Interessen und Fragen durchsuchen.  

Wie werden oder wurden diese Methoden entwickelt: ganz oder teilweise für Ihr Projekt (oder gab es frühere Anwendungen und Vorbilder)?

Die Strukturierung von Texten im XML-Format wird seit den 1980er-Jahren vor allem von der Text Encoding Initiative (TEI) vorangetrieben. Daneben gibt es davon abweichende XML-Unterformate wie USX (Unified Scripture XML), die von anderen Initiativen wie der Bible Translation Community entwickelt werden. Einige XML-Dateien der Texte, mit denen wir arbeiten, werden von der Deutschen Bibelgesellschaft bereitgestellt.

Für die Annotationssoftware gibt es einige Programme, die uns dabei geholfen haben, uns die nötigen Fähigkeiten praktisch anzueignen und auszuprobieren. Namentlich haben wir mit dem Programm Catma gearbeitet. Da sich dieses jedoch nicht vollständig auf alle Bedarfe des Projekts anpassen lässt, ist die Programmierung einer neuen Annotationsumgebung nötig.

Welche Ergebnisse liegen bereits vor, welche erwarten Sie? Wie sähe dieselbe Forschungsarbeit ohne DH-Methoden aus?

Der lateinische Text des 4. Esrabuches liegt uns bereits im USX-Format vor. Im Rahmen des Projekts wurde eine neue deutsche Übersetzung der lateinischen Version angefertigt, ebenso eine neue Edition der äthiopischen Version samt einer Übersetzung ins Deutsche.

Viele Annotationen zum 4. Esrabuch wurden bereits mit dem oben erwähnten Programm Catma erstellt. Darüber hinaus wurden im Rahmen des Projekts viele Beobachtungen in anderen Formaten aufgezeichnet, die sich in die zu erstellende Annotationsumgebung überführen lassen. Ohne Methoden der Digital Humanities ließe sich kaum eine anschauliche oder auch nur handhabbare Edition der verschiedenen Versionen des 4. Esrabuches herstellen, erst recht keine Edition, die sich auf die eigenen Interessen und Kenntnisse anpassen lässt.

Die Beobachtungen in einer Annotationdatenbank vorzunehmen statt nur in einzelnen Notizen, die dann teilweise in Aufsätze und Bücher eingehen, hat mehrere Vorteile: Eine Annotationsdatenbank lässt sich flexibler strukturieren als jedes Mindmap und jeder Karteikasten, ist leichter durchsuchbar und dynamisch erweiterbar. Zudem bietet es die Möglichkeit, mit mehreren Forschenden rund um den Globus zusammenzuarbeiten.  

Zuletzt ein ganz praktischer Aspekt: Die Kombination aus Edition und Kommentar zu den verschiedenen – insgesamt: neun! – Versionen und gegebenenfalls deren Übersetzungen ins Deutsche oder Englische würde den Rahmen jedes Buches, das noch auf einen Schreibtisch passen soll, sprengen.         

Worin liegen die heutige gesellschaftliche Relevanz dieser Forschungsarbeit und der Wert der DH-Methoden?

In Zeiten von Kriegen und Klimawandel ist das Wort „apokalyptisch“ in aller Munde. Zugleich stellt sich (spätestens) durch die Globalisierung immer wieder die Aufgabe, uns über kulturelle Beziehungen zu verständigen, neue Begriffe und Modelle dafür zu finden. Unter beiden Gesichtspunkten kann es hilfreich sein, einen Blick auf antike apokalyptische Schriften zu werfen, die ebenfalls in einer Umgebung entstanden sind, die von Krisen und Umbrüchen, aber auch von vielfältigem kulturellem Austausch geprägt war. Die Beschäftigung mit diesen Schriften wird durch ihre digitale Edition und Annotation einem möglichst großen Kreis von Interessierten ermöglicht. Auch vollzieht sich durch die digitale Edition verschiedener Versionen eine Form von Kulturschutzarbeit, die etwa die Textüberlieferung im Syrischen, Äthiopischen, Georgischen, Armenischen oder Arabischen ins Rampenlicht stellt. (exc/pie)