uni kunst kultur-Magazin - Sommer 2024
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Kulturpolitische Pionierarbeit

Der Madrigalchor als Botschafter der Universität Münster
Fotoalbum der Amerikareise des Madrigalchors 1959 von Renate Brockpähler, Archiv für Alltagskultur (LWL)
© Renate Brockpähler

Am 29.09.1959 bestiegen 40 Studierende, Mitglieder des Madrigalchors der Universität Münster, mit ihrer Chorleiterin ein Flugzeug nach New York, um eine Konzertreise mit Auftritten in 27 verschiedenen Städten anzutreten. Ein liebevoll gestaltetes Zeugnis dieser Reise stellt ein Fotoalbum aus dem Nachlass von Renate Brockpähler dar, das im Archiv der Kommission Alltagskulturforschung für Westfalen (LWL) liegt. Angesichts der Größe des Chores und der vielen Tournee-Stationen drängt sich beim ersten Blättern die Frage auf: Wie war es vor 60 Jahren – also lange bevor es Internet, E-Mail und Whatsapp gab –möglich, eine solche Reise zu organisieren und vor allem zu finanzieren? Dies lag wohl vor allem an der Chorleiterin Herma Kramm und ihrem besonderen Geschick, die für die Reise notwendigen Gelder einzuwerben. Die vielen Aktenordner voller Briefe und Abrechnungen in ihrem Nachlass, der vom Universitätsarchiv Münster bewahrt wird, zeugen von ihrem unermüdlichen Engagement.

Herma Kramm, 1920 in Emden geboren, hatte in Münster, Hamburg und Wien Gesang studiert und zusätzlich eine Ausbildung als Chorerzieherin absolviert. 1947 gründete sie in Münster den Madrigalchor. Geprobt wurde in Räumen der Katholischen Studentengemeinde und da die Sänger*innen ohne Ausnahme Studierende waren, nannte sie den Chor bald „Studentischer Madrigalchor an der Universität Münster.“ Dies führte anfangs zu Spannungen, denn sie war nie förmlich an der Universität angestellt: die Chorleitung war für sie immer Ehrenamt.

1948 reiste Kramm mit ihrem Chor in die Niederlande, Auftakt einer unermüdlichen Reisetätigkeit, über die der Dekan der Philosophischen Fakultät anlässlich ihrer Ernennung zur Honorarprofessorin 1987 schrieb: Herma Kramm hat „[m]anchmal kulturpolitische Pionierarbeit [geleistet] durch Bereisung von Ländern, zu denen die diplomatischen Beziehungen noch in der Entwicklung standen: 1948 Holland, 1971 Polen, 1957 Einladung in die USA durch Präsident Eisenhower.“ Der Madrigalchor absolvierte unter der Leitung Herma Kramms 36 Konzertreisen ins Ausland mit etwa 1000 Konzerten unter anderem in Japan, Thailand, Pakistan, Jugoslawien, Neuseeland, El Salvador, Puerto Rico, Peru, Venezuela, Tasmanien und auf dem afrikanischen Kontinent. Auftritte vor Papst Pius XII. 1954 und im Rahmen der Salzburger Festspiele 1986, 1990 und 1993 gehörten zu den Höhepunkten des Chorlebens. Als Botschafter der Universität war der Chor so erfolgreich, dass man scherzhaft sagte: Wo immer Uni-Vertreter*innen auch hinfuhren, der Madrigalchor war schon dort gewesen.

Auch die Korrespondenz zur Reise von 1959 füllt viele Aktenordner. Der Chor hatte inzwischen eine Schallplatte produziert, die während der Tournee verkauft werden sollte. Die Einnahmen, dies stand schon vor Antritt der Fahrt fest, sollten als Spende an die jüdische Gemeinde in Münster gehen. Zusätzlich zu den Flugtickets für den Chor war also auch Frachtraum für die sperrigen Vinylplatten im Flugzeug und den Tourneebussen zu finanzieren. Herma Kramm schrieb also auf ihrer Schreibmaschine zahllose Briefe an Industrieunternehmen und öffentliche Einrichtungen, um für ihr Projekt zu werben. In einem dreiseitigen Brief an den damaligen Direktor des LWL, Anton Köchling, heißt es: „Der münstersche Chor verbindet mit dieser an sich für kulturell-menschliche Beziehungen geplanten Reise ein ganz besonderes Anliegen: Er will diese Reise im Rahmen der ‚Wiedergutmachung‘ einbeziehen, in dem er an Orten Konzerte durchführt für diesen ideellen Zweck.“ Daher seien auch Begegnungen mit jüdischen Emigrant*innen der NS-Zeit geplant. Und natürlich betonte Kamm auch, dass sogar Bundespräsident Theodor Heuss und das Auswärtige Amt die Reise unterstützten. Der LWL bezuschusste die Reise schließlich mit 4.000 DM. Auch das Kultusministerium, die Universität und die deutsche Wirtschaft steuerten hohe Beträge bei. Theodor Heuss spendete sogar 1.000 DM aus seinem Privatvermögen. Dennoch mussten die Studierenden einen Eigenanteil von ca. 400 DM aufbringen. Bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 5.602,00 DM im Jahr 1959 war dies eine beträchtliche Summe, die sie sich, so Kramm, in den Semesterferien erarbeiteten. So konnten die Gesamtkosten der Reise in Höhe von 116.218,55 DM nicht nur gedeckt werden, es wurde sogar ein Überschuss von 5.000 DM erzielt – ein kleiner Beitrag zum Wiederaufbau der Synagoge in Münster.

Im Mittelpunkt ihres Tuns stand für Kramm aber die künstlerische Arbeit mit den Sänger*innen. Im Universitätsarchiv findet sich eine Aufstellung der regulären Chorproben: „Wöchentliche Abendproben, dazu kommen monatliche Wochenend-Probentagungen mit einem Probenkontingent von 16 Stunden, je nach Begabung einzelner Mitglieder des Chors auch Einzelunterricht, was pro Tag ca. 4 Gesangsstunden ergibt. Je nach bevorstehendem Programm ergibt sich die Notwendigkeit eines Ensemble-Unterrichts mit je 3-5 Stimmen, vor Auslandsreisen zusätzlich erhöhtes Probequantum.“ Zwar hatte Kramm als Gesangslehrerin und aus Vorträgen für die Deutsche Welle ein kleines eigenes Einkommen, ihr Engagement für den Madrigalchor war aber wohl nur möglich, weil ihr Ehemann, der Rechtsanwalt Dr. Klemens Kramm, sie vorbehaltlos unterstützte. Zahlreiche Auszeichnungen zeugen von der öffentlichen Anerkennung für ihren Einsatz: 1970 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz am Bande, 1983 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 1972 die Paulus-Plakette der Stadt Münster, 1987 den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Universität ehrte sie 1972 mit der Universitätsmedaille, 1981 folgte der Titel einer Universitätschordirektorin und 1987 die Honorarprofessur. 1994 wurde sie außerdem zur Ehrensenatorin der Universität ernannt. Heute erinnert der Herma-Kramm-Weg in Münsters Norden an sie.

Aber zurück zu dem Fotoalbum, in dem Renate Brockpähler die Reise aus Studentinnensicht dokumentierte. Das Abenteuer USA startete (nach Zwischenlandungen in Reykjavík und Goose Bay in Kanada) im Hotel Paris in New York. Bereits am ersten Tag nach der Ankunft begannen die Konzerte: „Morgens Probe und Konzert im City College, dessen Gast wir mittags waren. Hinterher ‚Stunde der Begegnung‘ mit einigen College-Studenten. Abends kurze Probe und Konzert in der Townhall; nicht so gut besucht, aber herzlicher Beifall“, notierte die damals 32-jährige Renate Brockpähler am 1. Oktober in ihrem dem Album beiliegenden Reisebericht. Am 3. Oktober ging es weiter nach Philadelphia, wo der Chor von der German Society of Pennsylvania empfangen und in Gastfamilien untergebracht wurde. Ähnlich verlief es auch an den anderen Orten: Die Chormitglieder übernachteten privat bei Gastfamilien oder in College-Wohnheimen.

Natürlich sammelte Brockpähler die Konzertprogramme ihrer Reise und die Zeitungskritiken, in denen immer wieder das künstlerische Niveau des Chors und die begeisterten Reaktionen des Publikums hervorgehoben wurden. Daneben füllte sie die Seiten mit Fotos, Postkarten, Werbezetteln, Tickets und sogar mit getrockneten Blättern und Blüten. So entstanden sehr persönliche Collagen, in denen die frisch promovierte Studentin die kulturellen, landschaftlichen und städtebaulichen Unterschiede der verschiedenen Orte, die der Chor besuchte, skizzierte. Der Bogen reicht von Wolkenkratzern in New York und Chicago über Fotos von einem Football-Spiel am Morningside College in Iowa bis zu Wild-West-Motiven aus Nebraska und Eindrücken aus dem French Quarter in New Orleans. Und immer wieder sieht man auf bunten Postkarten-Ansichten der besuchten Colleges und Universitäten.

Neben diesen unbeschwerten, fast stereotypen Impressionen aus dem Amerika der späten 50er Jahre zeugt das Album auch von Brockpählers sensiblem Blick für die problematischen Seiten des Landes. So notierte sie auf den Seiten über den Besuch des Gustavus Adolphus College in Minnesota neben einem Foto von Bewerberinnen für eine Studentinnenverbindung „das College mit den schlimmsten Pledges-Bräuchen“: die Bewerberinnen mussten Schilder mit der Aufschrift ‚I am a Pledge‘ tragen und sich demütigenden Ritualen unterwerfen, ehe sie in die Verbindung aufgenommen wurden. Zwischen den Seiten zu den Auftritten in New Orleans (Louisiana) und Atlanta (Georgia) findet sich eine Seite mit der Überschrift „Im Süden: Das Rassenproblem“, auf der sie Fotos von afroamerikanischen Arbeitern und Kindern zeigt. Ein Foto zeigt einen Obdachlosen, der auf einer Treppe schläft. Besonderen Eindruck scheinen die sichtbaren Zeichen der ‚Rassentrennung‘ hinterlassen zu haben. So fotografierte Brockpähler die Schriftzüge über den Eingängen zu den Umkleidekabinen eines Schwimmbads: ‚Ladies‘, ‚Men‘ und ‚Colored‘. Und in der Beischrift „The World‘s most fabulous shopping centre! (75 Shops!)“ neben zwei Ansichtskarten eines Einkaufszentrums auf der grünen Wiese bei Minneapolis schwingt vielleicht sogar ironische Konsumkritik mit. Wie sie in ihrem Reisebericht schreibt, diskutierte Brockpähler über ihre verschiedenen Eindrücke und Fragen immer wieder auch mit ihren „Hosts“ (Gastgeber*innen).

Nicht nur mit Blick auf Herma Kramms Ziel, mit ihrem Engagement eine Art „Wiedergutmachung“ für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erreichen, sind diese Chorreise und das die Tournee dokumentierende Fotoalbum großartige historische Zeugnisse. Aus der Sicht einer jungen Deutschen der späten 1950er Jahre dokumentiert das Album ein Amerika, das uns nur noch aus Filmen bekannt ist. Es zeigt natürlich die Chormitglieder mit ihren Gastfamilien, vor Sehenswürdigkeiten und an geselligen Abenden. Die Fotos, Postkarten, Eintrittskarten etc. spiegeln aber auch eine Faszination, die Konsum- und Baukultur hervorriefen, sowie Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen in den USA. Mit ihrem unermüdlichen Engagement gelang es Herma Kramm, auf der Mikroebene so etwas wie diplomatische Beziehungen zu knüpfen und den Mitgliedern des Chors unvergessliche Eindrücke von der Heimat des ehemaligen Feinds zu vermitteln.

| Kathrin Schulte

Anmerkung: Dieser Text ist die erweiterte Fassung eines 2019 erschienenen Blogbeitrags https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/move-up-to-a-better-life-eat-hamburgers/