Von Pestpfeilen und Wundern – Von Göttern und Heiligen

Von Historiker Matthias Sandberg

Alexander Rothaug (1870-1946), Apollo, die Pestpfeile aussendend, Öl auf Leinwand, 185 x 236 cm, um 1920.
© Belvedere Wien, Inv. 4048

Die Szene, die das Gemälde Alexander Rothaugs mit Dramatik und Pathos bildgewaltig umsetzt, entstammt der homerischen Ilias. Das Narrativ, das sich der Künstler wählte, war die Erzählung davon, wie die Pest in das Lager der Ilion (Troja) belagernden Achaier (Griechen) kam – und zwar in Form der Pestpfeile des Gottes Apollo. Einen solchen Pfeil auflegend sehen wir Apoll dargestellt: Über die mit jeweils einem Pfeil Niedergestreckten – als Beinnamen des Gottes nennt die Ilias das Epitheton ‚immertreffend‘ – setzt der Gott zum nächsten Schuss auf die von Furcht ergriffenen Achaier an. Erbarmungslos bringt der dargestellte Apoll Verderbnis über die Menschen – es war das Strafgericht eines rächenden Gottes.

Der Sohn des Zeus und der Leto war erzürnt über den Anführer der Achaier: Agamemnon hatte Chryses, einen frommen Priester des Apoll, wiederholt gedemütigt. Mit seinem Frevel war der Sündenfall in der Welt der griechischen Belagerer Ilions, und die Vergeltung folgte rasch: Ihnen, die seit zehn Jahren erfolglos gegen Troja anstürmten, die durch Streit und Eitelkeiten entzweit waren, sandte der rächende Apoll nun auch noch sein göttliches Strafgericht. Die Pest steht also ganz am Anfang der Ilias und damit zugleich auch am Anfang der abendländischen Kulturgeschichte:


Wer hat jene der Götter empört zu feindlichem Hader?
Letos Sohn und des Zeus. Denn der, dem Könige zürnend,
Sandte verderbliche Seuche durchs Heer; und es sanken die Völker:
Drum weil ihm den Chryses beleidiget, seinen Priester,
Atreus Sohn. Denn er kam zu den rüstigen Schiffen Achaias,
Frei zu kaufen die Tochter, und brachtʼ unendliche Lösung,
Tragend den Lorbeerschmuck des treffenden Phöbos Apollon

Und den goldenen Stab; und er flehete laut den Achaiern,
Doch den Atreiden vor allen, den zween Feldherren der Völker:
Atreus Söhnʼ, und ihr andern, ihr hellumschienten Achaier,
Euch verleihn die Götter, olympischer Höhen Bewohner,
Priamos Stadt zu vertilgen, und wohl nach Hause zu kehren;

Doch mir gebt die Tochter zurück, und empfahet die Lösung,
Ehrfurchtsvoll vor Zeus ferntreffendem Sohn Apollon.
Drauf gebot beifallend das ganze Heer der Achaier,
Ehrend den Priester zu scheun, und die köstliche Lösung zu nehmen.
Aber nicht Agamemnon, des Atreus Sohne, gefiel es;

Dieser entsandtʼ ihn mit Schmach, und befahl die drohenden Worte:
Daß ich nimmer, o Greis, bei den räumigen Schiffen dich treffe,
Weder anitzt hier zaudernd, noch wiederkehrend in Zukunft!
Kaum wohl möchte dir helfen der Stab, und der Lorbeer des Gottes!
Jene lös' ich dir nicht, bis einst das Alter ihr nahet,

Wann sie in meinem Palast in Argos, fern von der Heimat,
Mir als Weberin dient, und meines Bettes Genossin!
Gehe denn, reize mich nicht; daß wohlbehalten du kehrest!
Jener sprach's: doch Chryses erschrak, und gehorchte der Rede.
Schweigend ging er am Ufer des weitaufrauschenden Meeres;

Und wie er einsam jetzt hinwandelte, flehte der Alte
Viel zum Herrscher Apollon, dem Sohn der lockigen Leto:
Höre mich, Gott, der du Chrysa mit silbernem Bogen umwandelst,
Samt der heiligen Killa, und Tenedos mächtig beherrschest,
Smintheus! hab ich dir je den prangenden Tempel gekränzet,

Oder hab' ich dir je von erlesenen Farren und Ziegen
Fette Schenkel verbrannt; so gewähre mir dieses Verlangen:
Meine Tränen vergilt mit deinem Geschoß den Achaiern!
Also rief er betend; ihn hörete Phöbos Apollon.
Schnell von den Höhn des Olympos enteilet' er, zürnendes Herzens,

Auf der Schulter den Bogen und ringsverschlossenen Köcher.
Laut erschallen die Pfeile zugleich an des Zürnenden Schulter,
Als er einher sich bewegt'; er wandelte, düster wie Nachtgraun;
Setzte sich drauf von den Schiffen entfernt, und schnellte den Pfeil ab;
Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen.

Nur Maultier' erlegt' er zuerst und hurtige Hunde:
Doch nun gegen sie selbst das herbe Geschoß hinwendend,
Traf er; und rastlos brannten die Totenfeuer in Menge.

(Hom. Il. 1,8-52)

Die iliadische Pestdarstellung ist die erste Reflexion zu Seuchen in der abendländischen Literatur. Eine Betrachtung ihrer Deutung und Erklärung offenbart eines der ältesten und grundlegendsten Prinzipien des Umganges mit Seuchen und Krankheit in der Alten Welt: Sie galten als göttliches Strafgericht, als Sühne für die Sünden der Menschen. Daneben offenbart sich das Wirken des zürnenden Gottes in einem manifesten Symbol – dem Pestpfeil.

Die Vorstellung von dem Wüten der Seuche in Form krankmachender Pfeile war nicht nur ein ‚symbolischer‘ Zugang zu den in der Alten Welt unbekannten Verbreitungswegen der Erreger, sondern gleichsam auch ein klassisches Deutungsmuster der Alten Welt: Die Vorstellung eines von einem göttlichen Schützen verschossenen Pfeiles als Träger der Infektion war denn auch nicht allein im frühgriechischen Denken der homerischen Welt verbreitet: Zahlreiche Kulturen des Nahen Ostens und des Alten Orients – wo sicherlich auch der Ursprung der iliadischen Darstellung zu suchen ist – kennen Pestpfeile und (Pest-)Götter, die Bogen und Köcher zu ihren Attributen zählen: Reschef, eine syrisch-palästinische Gottheit, der hetitische Jarri, der mesopotamische Nergal, die ägyptische Sekhmet, auch Jahwe und nicht zuletzt auch der christliche Gott suchten die Menschen mit Pestpfeilen heim.

Doch gegen die krankmachenden Pfeile gab es auch Schutz: Der iliadische Apoll wird beschwichtigt, indem Agamemnon seinen Frevel sühnt und dem Chryses die Herausgabe seiner geraubten Tochter gewährt. Karthatische Rituale und Sühne-Prozessionen vermochten die Pestgötter des Alten Orients und des Alten Testaments zu beschwichtigen. Im christlichen Glauben waren und sind es zahlreiche Heilige, von denen Beistand und Schutz im Gebebt oder Ritual erfleht werden konnten.

Andrea Mantegna  (1430/31-1506), Hl. Sebastian, um 1457/59, 68 cm x 30 cm.
© Kunsthistorisches Museum Wien, Gemäldegalerie, Inv. Gemäldegalerie 301, gemeinfrei

Ein besonders schönes Beispiel ist der Heilige Sebastian: Zu den ikonographischen Attributen dieses christlichen Märtyrers zählen vor allem die Pfeile in seinem Leib: Sie stehen nach christlicher Tradition für den vergeblichen Versuch der Hinrichtung des bekennenden Christen durch den Christenverfolger Diocletian (284-305): Nachdem der Kaiser erfahren habe, dass es mit Sebastian einen Christen in seiner Leibgarde gegeben habe, der seinen verfolgten Glaubensbrüdern und -schwestern auch noch Hilfe habe zukommen lassen, habe er dessen Hinrichtung angeordnet. An einen Pfahl gebunden, sollte Sebastian durch Bogenschützen gerichtet werden. Als schließlich die fromme Witwe Irene seinen Leichnam habe abnehmen wollen, offenbarte sich ihr das Wunder: Der mit Pfeilen gespickte Sebastian war nicht tot.

Dass Sebastian Diocletian letztlich ein zweites Mal gegenübertrat, seinen Glauben abermals bekannte und sodann endgültig den Tod fand, ist hier nicht weiter von Belang. Entscheidend ist vielmehr, dass der Heilige Sebastian offenkundig bestens geeignet war, um Schutz vor der Pest und ihren Pestpfeilen zu erlangen. Die bestechend elegante Logik hinter dieser Überzeugung hat sich etabliert: Aus dem christlichen Mittelalter bis in die Gegenwart sind zahlreiche Sebastians-Prozessionen und Sebastians-Gelübde im Zusammenhang mit Pestepidemien und deren Ende überliefert, werden bis heute memoriert und vollzogen. Doch nicht nur in Form des Gebetes wandten sich Gläubige an Sebastian zum Schutz vor Krankheit: Kleine metallene Pfeile – die sogenannten Sebastianspfeile – sind und werden als apotropäische Amulette zur Abwehr von Krankheit und Seuchen getragen.

Am Ende bleibt die Frage danach, wie entlegen das Symbol des Pestpfeiles als Träger von Krankheit und Seuche den modernen BetrachterInnen scheinen mag. Ohne Mikroskop jedenfalls bleibt das Unsichtbare auch dem modernen Menschen unsichtbar und so manch eine Nachricht im Zusammenhang mit der Berichterstattung zu Corona und seinen Folgen erinnert an die iliadische Dichtung: „Und ein schrecklicher Klang entscholl dem silbernen Bogen.“