Die Pest als transitorisches Moment bei Raffael

Von Kunsthistorikerin Prof. Dr. Eva-Bettina Krems

Raffael und Marc Antonio Raimondi, Die Pest in Phrygien oder: Il morbetto, 1515-16, Kupferstich, 19,8 x 25,5 cm.
© Raffael und Marc Antonio Raimondi, Die Pest in Phrygien oder: Il morbetto, 1515-16, Kupferstich, 19,8 x 25,5 cm, Amsterdam, Rijksmuseum (Public Domain CC0 1.0)

Am 6. April 1520, also vor 500 Jahren, starb der berühmte Renaissance-Künstler Raffael im Alter von nur 37 Jahren. Aus Anlass dieses Jubiläums haben viele Museen weltweit Ausstellungen erarbeitet, die nun aufgrund der Corona-Krise geschlossen oder verschoben werden mussten. Über die Gründe von Raffaels frühen Tod wurde und wird viel spekuliert: Malaria oder Syphilis, aber auch die Pest werden als Ursache immer wieder genannt. Die Bedrohung durch Seuchen wie die Pest gehörte zum Lebensalltag im frühen 16. Jahrhundert, wie allgemein in der Frühen Neuzeit. Fünf Jahre vor seinem Tod, 1515, hat sich Raffael auch künstlerisch diesem Thema gewidmet. Sein zeichnerischer Entwurf wurde durch diesen Kupferstich Marc Antonio Raimondis bekannt. Darauf präsentiert Raffael das grausame Geschehen nicht als ein Ereignis im zeitgenössischen Rom, sondern kleidet es wie üblich in ein antikes mythisches Gewand. Dies schmälert die Wucht der Darstellung jedoch keineswegs; vielmehr steigert die Überzeitlichkeit des Geschehens die Wirkung dieses als „Il morbetto“ (kleine Pestdarstellung) bekannten Kupferstichs enorm. Seine beunruhigende Aktualität bestätigen gerade in diesen Wochen die ins Gedächtnis eingebrannten Bilder aus Italien im März 2020.

Der mythische Gründungsvater Roms, Aeneas, und seine Weggefährten sind die Protagonisten von Raffaels Darstellung, der im Stich Raimondis wörtliche Zitate aus der Textquelle beigefügt wurden (aus: Vergil, Aeneis, Buch III, 138-140). Aeneas wusste lange nicht, wo genau er nach seiner Flucht aus dem brennenden Troja die neue Stadt gründen sollte. Aufgrund einer falschen Deutung des Orakels landete er mit seinem Gefolge während der langen Irrfahrt auf der Insel Kreta, die sie für ihre neue Heimat hielten. Sofort errichtete Aeneas eine Mauer um die Stadt, während seine Gefährten die Äcker bestellten und Häuser bauten. Von diesen von Neuanfang und Hoffnung zeugenden zivilisatorischen Maßnahmen ist auf dem Kupferstich kaum mehr etwas zu sehen, denn das Schicksal hatte es anders bestimmt: „Plötzlich kommt durch verdorbene Luft, gleich kläglich für Saaten und Bäume, Mark und Glieder verzehrend, mit tödlichen Seuchen ein Pestjahr“ (Aen., III, 138f.). Eine Pestepidemie zerstörte plötzlich alles, was mühsam aufgebaut wurde. Vergil fasst diesen als ungeheuren Zeiteinschnitt und Zukunft zerstörenden Moment in wenigen prägnanten Zeilen zusammen, die schließlich in den Worten kulminieren: „Wer aus dem Leben nicht schied, dem geliebten, der schleppte den Körper siechend dahin“ (Aen., III, 140). So ist auch in Raffaels Darstellung die verstörendste Szene dem Betrachter am nächsten: Am rechten unteren Bildrand versucht ein Mann, der sich vor Gestank und Ansteckung schützend die Nase zuhält, ein Kleinkind davon abzuhalten, von der Brust der von der Pest dahingerafften Mutter zu trinken. Hinter ihm legt eine Frau ihre Hand auf seine Schulter, um ihn daran zu hindern, der Toten zu nahe zu kommen, die auf dem Boden in grausamer Analogie zu den von einer Fackel erleuchteten Kadavern der Schafe im Stall auf der linken Seite platziert wurde. Das Blatt wird geteilt durch eine monumentale Herme im Zentrum, an deren Sockel eine trauernde Frau zusammengesunken kauert. Die Herme kann als Gott Terminus, als Grenze zwischen Leben und Tod, gedeutet werden: Der von der Pest verursachte Tod als Terminus des körperlichen Lebens von Mensch und Tier bildet ein Konzept, dem die auf dem Boden verstreuten Ruinen ebenso entsprechen. Doch der plötzlich verlorenen Zukunft und Hoffnung auf ein friedvolles Leben bietet die konsequent in eine dunkle und helle Seite aufgeteilte Darstellung auch ein Gegenkonzept an, das sich in der Tiefe mit einer narrativen Zeitstruktur entfaltet: Links oben wird Aeneas in seinem vom Mondschein erhellten Schlafraum von den Hausgöttern der Phrygier geweckt, die ihm raten, Kreta schnell zu verlassen, um der Pest zu entkommen. Sie weisen ihm den Weg nach Italien, wo er dem Mythos nach Stammvater Roms werden sollte. Der Fluchtrichtung nach rechts oben folgend, dem Licht entgegen, sind am Bildrand Abbreviaturen des Kolosseums und der Cestius-Pyramide zu erkennen, die den Bestimmungsort des Helden markieren. Aeneas kann dem grausamen Tod entrinnen, dem Wüten der Pest, das Raffael hier in einem eindrucksvollen und immer wieder aktuellen Spannungsfeld zwischen Dunkel und Hell, zwischen Tod und Leben, zwischen Leid und Hoffnung inszeniert.