Pandora und Pandemien

Von Historiker Matthias Sandberg

Pandora, John William Waterhouse (1849-1917), 1896, Öl auf Leinwand
© jwwaterhouse.com

Die ‚Pandora‘ von John William Waterhouse zeigt einen zentralen Moment der griechischen Mythologie: Der listenreiche Zeus sann – wegen Prometheus‘ frevelhaftem Raub des Feuers immer noch zürnend – auf Rache: Zusammen mit dem tückischen Gebot es verschlossen zu halten, überließ der Göttervater den Menschen ein Gefäß voll von Übeln – der Plan ging auf: Die Neugier der Pandora wog schwerer als die Mahnung des Olympiers: Bereits unmittelbar nach der Hochzeit mit Prometheus‘ Bruder, Epimetheus, öffnet Pandora die Kiste – Unglück, Elend, Leid und Krankheit kamen in die Welt. Von dem ‚Sündenfall‘ des griechischen Mythos heißt es bei Hesiod:

„Zahllos schwärmten umher bei Menschen die anderen Leiden.
Voll ist wahrlich das Land vom Unheil, voll auch die Meerflut;
Krankheit (νοῦσος) schleichet am Tag wie zur Nachtzeit unter den Menschen,
Rings zu den Sterblichen tragend das Weh aus eigenem Antrieb.“
(Erga 100-104)

Genau diesen Moment fokussiert das Gemälde: Der Hauch des Übels kommt – auch in Form von Seuchen – über die Menschen und ihre Welt. Abgesehen davon, dass der dargestellte ‚Pesthauch‘, das μίασμα, bereits von Hippokrates (ca. 460-370 v.Chr.) als Auslöser von Krankheiten wie der Malaria bezeichnet worden war, hat schon Hesiod Seuchen als ‚raumgreifendes‘ Phänomen beschrieben – „voll ist das Land von Unheil, voll auch die Meerflut.“ Auch der athenische Historiker Thukydides erkannte der sogenannten „Attischen Pest“, die in den Jahren 430/426 v. Chr. inmitten des Peloponnesischen Krieges in Athen wütete, eine weitreichende räumliche Dimension zu und reflektierte die Ausbreitung anhand geographischer Raumkonzepte:

„Angefangen hatte es zuerst, wie berichtet wird, von dem südlich Ägyptens gelegenen Äthiopien (Αἰθιοπία) aus, sodann war es auch nach Ägypten (Αίγυπτος) und Libyen (Λιβύη) heruntergekommen und hatte sich weit im Lande des Großkönigs (ἐς τὴν βασιλέως γῆν τὴν πολλήν) ausgebreitet. (2) Über die Stadt der Athener brach es ganz plötzlich herein, und zuerst befiel es die Menschen im Piräus (ἐν τῷ Πειραιεῖ); [...] später erreichte es auch die weiter landeinwärts gelegene Stadt (ἐς τὴν ἄνω πόλιν ἀφίκετο), und nun gab es ein noch viel größeres Sterben.“ (Thuk. II, 48, 1-2)

Ganz ähnlich berichtet auch der spätantike Historiker Ammianus Marcellinus (ca. 300-395 n. Chr.) von der nach dem Beinamen des Kaisers Marc Aurel (reg. 161-180 n. Chr.) benannten ‚Antoninischen Pest‘, die das römische Reich im ausgehenden 2. Jhd. n. Chr. heimsuchte:

„Diese Stadt [Seleukeia-Ktesiphon, M.S.] eroberten die Heerführer des Mit-Kaisers Verus [...] Wie man erzählt, steckten die Soldaten [...] die Stadt in Brand und durchsuchten das Heiligtum. Dabei fanden sie eine schmale Öffnung. Sie erweiterten sie in der Hoffnung, etwas Wertvolles zu finden, doch da strömte aus dem Allerheiligsten, [...], ein urtümliches Verderben (labes primordialis) hervor. Es nahm die Stärke unheilbarer Krankheiten an und besudelte zur Zeit des Verus und des Marcus Antoninus alles Land von den Grenzen der Perser (ab ipsis persarum finibus) bis zum Rhein und Gallien mit Ansteckung und Tod (ad usque rhenum et gallias cuncta contagiis polluebat et mortibus).“ (Amm. XIII, 6, 23-24.)

Wie die Büchse der Pandora Verderben über die Welt brachte, so brach aus den von den Truppen des Verus (reg. 161-169) geschändeten Tempelmauern ein labes primordialis hervor – ein urtümliches Verderben, dass sich über den gesamten römischen Erdkreis ausbreitete. Wie Thukydides durchmisst auch Ammian die räumliche Dimension der Seuche anhand geographischer Großräume: Vom Euphrat bis an den Rhein, ja bis in die gallischen Provinzen hätten sich Ansteckung und Tod unter den Menschen verbreitet.

Ein epigraphisches Zeugnis aus dem bayrischen Mauerkirchen/Bad Endorf (röm. Bedaium), einer römischen Siedlung in der Provinz Noricum, (die sich über das heutige südliche Bayern, Österreich und Südtirol erstreckte), gewährt uns – anders als die literarischen Berichte – einen Einblick in die lokal-räumliche Dimension der ‚Antoninischen Pest‘. Sind es heute global vernetzte Märkte und Reisen, welche die Verbreitung des Corona-Virus befördert haben, so folgte die Verbreitung der ‚Antoninischen Pest‘ entlang der Routen der ‚global‘ operierenden römischen Legionen, mit denen die Seuche in jeden Winkel des Imperium vordringen konnte, so auch nach Noricum: Der heute verlorene Grabstein (früher München Nationalmuseum, Inv. IV 734) berichtet von dem Schicksal einer ganzen Familie; so heißt es nach der Grabinschrift (CIL 3, 5567):

„Den Totengeistern /
Iulius Victor, Sohn des Martialis, / starb mit 55 Jahren
seine Frau Bessa, Tochter des Iuvenis, wurde 45 /
Novella, Tochter des Essibnus, starb 18jährig /
Victorinus hat den Eltern (Victor und Bessa) / und seiner Ehefrau (Novella) und Victorina, / seiner Tochter, den Grabstein machen lassen /
denen, die einer Seuche zum Opfer gefallen sind, die im Jahr der Konsuln Mamertinus und Rufus (182 n. Chr.), wütete, /
und dem Aurelius Iustinus, seinem Bruder und Soldaten / der Legio II Italica, der 10 Jahre diente / und 30 Jahre alt wurde“

„per luem vita functi sunt“ – eine ganze Familie starb im Jahr 182 n. Chr. an der ansteckenden Seuche (lues). Der hinterbliebene Victorinus, der Eltern, Frau und eine – in Anbetracht des Alters seiner Ehefrau wahrscheinlich noch sehr junge – Tochter, schließlich auch seinen Bruder verloren hatte, ließ als Auftraggeber der Inschrift neben der üblichen Konsuldaterung ausdrücklich darauf hinweisen, dass alle Vorgenannten im selben Jahr an der beschriebenen Seuche gestorben sind.

Das persönliche Beispiel bekräftigt nicht nur, dass es sich um eine exzeptionelle Tragödie für Victorinus handelte, sondern darüber hinaus, dass – wie es auch die Entwicklung der Corona-Epidemie zur globalen Pandemie offenlegte – seuchenartige Krankheitsverläufe einen ubiquitären Charakter haben können: Krankheiten in fernen Ländern, gar anderen Kontinenten, waren in der Antike wie auch in der Gegenwart ‚mobil‘: Corona, das mutmaßlich in China seinen Ausgang nahm und sich weltweit verbreitete, ist dafür ebenso ein Beleg wie die ‚Antoninische Pest‘ die sich entlang der Marschrouten römischer Soldaten vom vorderasiatischen Tigris bis in das zentraleuropäische Noricum und darüber hinaus verbreitete.

Doch immerhin: In der ‚Büchse der Pandora‘ hatten laut mythischer Überlieferung nicht nur die Übel ihren Platz, sondern, so berichtet Hesiod weiter, zugleich enthielt sie auch die Hoffnung (ἐλπίς) – und so verbindet sich, selbst in den frühesten Reflexionen zu Krankheit und Seuchen, das räumlich omnipräsente Übel stets mit der Hoffnung darauf, dass es überwunden werde – auch dahingehend gleichen sich Antike und Gegenwart.