Vertikale und Horizontale Kommunikation: Interdisziplinäre Zugänge zum Koran
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Leitung: Mouhanad Khorchide & Dirk Hartwig

Ziel der neu gegründeten Forschungsstelle „Vertikale und Horizontale Kommunikation: Interdisziplinäre Zugänge zum Koran“ ist es, zwei Forschungsrichtungen gerecht zu werden, die oft als einander entgegengesetzt empfunden werden: Wir setzen einerseits die islamtheologische Prämisse voraus, dass der Koran „die Offenbarung Gottes“ darstellt, die betrachtet durch die islamische Traditionsliteratur einen theologischen Zugang zur „Wahrheit“ eröffnen will. Andererseits erkennen wir gleichzeitig in der „historischen Koranforschung“ einen fruchtbaren Zugang zum Koran, verstanden als in der Geschichte „verkündetes Wort“. Beide Zugänge, der theologische wie auch der philologische/literaturwissenschaftliche, gehen davon aus, dass es sich beim Koran nicht nur um einen „Text“, sondern um eine „Kommunikation“ – vertikal und horizontal – handelt. Die Forschungsrichtungen gilt es zu verknüpfen, denn eine ausschließlich historische Betrachtung des Korantextes, wie sie in den benachbarten Disziplinen gelehrt wird – so das islamtheologische Verständnis –, reduziert den Koran auf eine rein geschichtliche Dimension, d.h. sie lässt ihn „in der Geschichte stehen“, und übersieht die spirituelle Bedeutung, die der Koran über die Jahrhunderte hinweg entfaltet hat und auch in unserer Wirklichkeit entfalten kann.

Spätestens seit der Gründung der „Islamischen Theologie in Deutschland“ (im Jahr 2010) als akademische Disziplin, die neben die jüdische und christliche Theologie treten kann, wird die islamische Glaubensurkunde nicht mehr nur im „Elfenbeinturm“ der westlichen Wissenschaft untersucht, sondern auch durch Islamtheologen und Islamtheologinnen kritisch betrachtet, die nun zum ersten Mal in Deutschland eine Innenperspektive profilieren und damit die wissenschaftliche Reflexion der islamischen Glaubenswahrheiten vorantreiben. So kommt dem Koran eine doppelte Funktion zu: Der Koran ist religionshistorisches „Artefakt“/„Weltliteratur“ und zugleich Glaubenszeugnis.

Für die muslimischen Gläubigen ist der Koran, ungeachtet der von der Geschichtswissenschaft vorgetragenen Materialfunde und Textgeneseprozesse, Offenbarung und als solches Medium für eine „Begegnung mit Gottes Gegenwart“, in der Gott in und jenseits der Geschichte erfahrbar wird. Die Erfahrung des „Direkt-Angesprochen-Seins“ durch das „Wort“ fordert in unserer Welt – über alle kulturellen und zeitlichen Abgründe hinweg – eine „Antwort“ ein. Der Glaube an den „einen“ Gott, den auch Judentum und Christentum lobpreisen und sich ihn hingeben, versteht sich als diese „Antwort“ auf das zuvor gehörte „Wort“, ohne das er keinen Bestand haben könnte.

Gleichzeitig beansprucht der Koran aber auch neben den Schriften von Judentum und Christentum – d.h. neben der Hebräischen Bibel und dem Evangelium – seit Beginn des 19. Jahrhundert einen festen Platz in der westlichen akademischen Auseinandersetzung. In der Vergangenheit waren es Theologen und Philologen – zu nennen allen voran Abraham Geiger (gest. 1874), Gustav Weil (gest. 1889), Ignaz Goldziher (gest. 1921), Hartwig Hirschfeld (gest. 1934), Theodor Nöldeke (gest. 1930), Friedrich Schwally (gest. 1919), Gotthelf Bergsträßer (gest. 1933), Otto Pretzl (gest. 1941), Josef Horovitz (gest.1931), Hubert Grimme (gest. 1942), Rudi Paret (gest. 1983), Josef van Ess (gest. 2021), Stefan Wild, Tilman Nagel, Angelika Neuwirth und Hartmut Bobzin, die sich der Erforschung der islamischen Grundschrift, ihrer Textgestalt und ihrer entworfenen Theologie widmeten.

Die auf 200 Jahre Forschungsgeschichte zurückgreifende Koranforschung, wie sie exemplarisch im Projekt „Corpus Coranicum“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (gegründet von Angelika Neuwirth, Michael Marx und Nicolai Sinai) vorangetrieben wird, legt Wert auf eine hermeneutisch konsistente, historisch und literaturwissenschaftlich ausgerichtete Diskussion des Korantextes. Sie beachtet den besonderen literarischen Charakter des Korans von philologischer Warte aus als einer aus einem „Auslegungsprozess“ entstandenen Schrift, die als „Mitschrift“ einer Gemeindebildung erkennbar wird. Diesen Aspekten wird Rechnung getragen durch eine „diachrone“ Textlektüre (über 22/23 Jahre der Verkündigung hinweg), von „Sure“ zu „Sure“ – nach zuvor erfolgter chronologischer Rekonstruktion – fortschreitend, die gleichzeitig ideologische Auseinandersetzungen mit älteren Traditionen aus der „Umwelt des Korans“ registriert.

Die Forderung nach einem rein historisch-kritischen Zugang zum Koran, der vor allem die Rekonstruktion und Analyse des koranischen Ursprungs anstrebt, klingt verlockend, wenn es darum geht, den Koran von den Schlacken der Jahrhunderte zu befreien und in die Moderne zu überführen. Dies ist jedoch allein nicht ausreichend, denn vorrangiges Ziel sollte es sein, dem koranischen Selbstanspruch gerecht zu werden und den vielfältigen Sinnschichten des Korans Raum zu geben. Es ist Thomas Bauer beizupflichten, wenn er betont: „Dem Korantext wiederum überzeitliches Bedeutungspotential und eine Bedeutungspluralität zuzuerkennen, wie die klassischen Gelehrten dies taten […], ist vielleicht in der Tat die einzige Möglichkeit, die Zeitbedingtheit der Exegese zu überwinden.“1

Allerdings darf diese Einsicht uns nicht gleich in eine neue methodische Sackgasse führen, die nach Bedeutung jenseits philologischer Grundlagenarbeit und historischer Kontextualisierung sucht. Die historische Kontextualisierung soll letztlich auch dazu dienen, die „Dialogizität“ zwischen Offenbarungsschrift und Lebenswirklichkeit der Erstadressaten aufzuzeigen, um so die „Geschichte des Wortes“ als die dramatische „Geschichte Gottes mit dem Menschen“ offenzulegen.

Um die Glaubensurkunde des Islams angemessen zu erfassen, bieten die westliche Koranforschung und die konfessionelle Islamtheologie unterschiedliche Ansätze, die über weite Strecken überlappen. Auch wenn beide Disziplinen nicht auf einem gemeinsamen Fundament aufbauen, basiert die islamtheologische Reflexion in Deutschland einerseits auf den Ergebnissen einer 200-jährigen wissenschaftlichen Erforschung, dringt andererseits aber auch in die westliche Wissenschaft vor und trägt so wichtige Erkenntnisse der islamischen Auseinandersetzung mit dem Text nach. Die westliche Koranforschung ihrerseits steht fest in der Tradition der westlichen Philologie, verkennt aber nicht den immensen Reichtum der islamischen Traditionsliteratur und die Bedeutung, die dem Text über Jahrhunderte zuerkannt wurde.

In diesem Spannungsfeld von „vertikaler“ und „horizontaler“ Kommunikation will die Forschungsstelle durch die Diskussion mit den jeweiligen Fachvertretern und Fachvertreterinnen der Islamischen Theologie und der Geschichts- und Geisteswissenschaften, aber auch mit Kollegen und Kolleginnen der benachbarten Theologien, neue Zugänge eröffnen.

 

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1 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 130f.