Ende ohne Ende?

Wie die Literatur das Ende von Epidemien darstellt

Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

Peter Brueghel d. Ältere (um 1525/30–1569), Der Hochzeitstanz (etwa 1566)
© Detroit Institute of Arts

Als in Albert Camus‘ Roman Die Pest (1947) die verheerende Seuche nach neun Monaten endlich vorbei ist, feiern die Menschen ausgelassen:

Auf allen Plätzen wurde getanzt. Der Verkehr hatte von einem Tag zum anderen beträchtlich zugenommen, und die zahlreicher gewordenen Autos kamen in den überfüllten Straßen nur mühsam vorwärts. Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit aller Kraft. Mit ihren Schwingungen erfüllten sie einen blaugoldenen Himmel. In den Kirchen wurden nämlich Dankgebete gesprochen. Aber zur gleichen Zeit waren die Vergnügungsorte zum Bersten voll, und in den Kaffeehäusern wurde unbekümmert um die Zukunft der letzte Alkohol ausgeschenkt. An den Schanktischen drängte sich eine gleichermaßen erregte Menschenmenge, darunter viele eng umschlungene Paare, die sich nicht vor Zuschauern scheuten. Alle schrien oder lachten. Den Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, da ihr Lebensflämmchen nur noch ganz niedrig brannte, gaben sie an dem einen Tag aus, der wie der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das eigentliche Leben mit seiner Vorsicht anfangen. Im Augenblick verbanden sich Leute sehr verschiedener Herkunft und tranken Brüderschaft. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wahrhaftig verwirklicht hatte, wurde jetzt wenigstens für ein paar Stunden von der Freude über die Erlösung geschaffen. (Albert Camus, Die Pest. übers. v. Guido C. Meister, Reinbek bei Hamburg 1966, 175)

So groß die Freude über die überstandene Epidemie ist, so sehr werden in der zitierten Passage auch skeptische Untertöne vernehmbar, wenn es heißt, dass am nächsten Tag wieder das „eigentliche Leben mit seiner Vorsicht“ anfange, oder wenn gesagt wird, dass „wenigstens für ein paar Stunden […] Freude über die Erlösung“ herrsche. Mit dem Ende der Pest löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf: Bevor der Roman zu Ende geht, verliert der Rentner Cottard den Verstand und schießt gezielt auf Menschen und Tiere. Und der Chronist und Protagonist Dr. Rieux weiß, dass die Pest zurückkommen wird, „weil der Pestbazillus niemals ausstirbt oder verschwindet“ (182). Die Pest ist zwar für diesmal vorbei, aber von einem Happy end kann nicht die Rede sein, zumal am Ende des Romans auch nochmals der Opfer gedacht wird. Für diejenigen, die einen nahen Menschen verloren haben – und Dr. Rieux gehört selbst dazu –, wird das Leben nicht mehr sein wie zuvor. Dass die Seuche zwar vorbei, aber nicht vergangen ist, dass sie wiederkehren kann, scheint unsere eigene Lage zu spiegeln.

Da macht es sich Daniel Defoes A Journal of the Plague Year in London von 1722, das sich auf die Pest des Jahres 1665 bezieht, ein bisschen einfacher. Nachdem die Seuche und ihre Auswirkungen in aller Ausführlichkeit und Drastik dargestellt worden sind (vgl. dazu das Dossier GOTTES WILLE/GOTTES BEISTAND), scheint es allein der Entschluss Gottes zu sein, das Übel zu beenden: „[…] it pleas’d God by the continuing of the Winter Weather to restore the Health of the City, that by February following, we reckon’d the Distemper quite ceas’d“ (Daniel Defoe, A Journal of the Plague Year [1722], ed. by John Mullan, The Novels of Daniel Defoe, ed. by W. R. Owens and P. N. Furbank, vol. 7, London and New York: Routledge, 2016, 206). Erzählerisch braucht dann kein weiterer Aufwand mehr betrieben zu werden und weiterführende Reflexionen erübrigen sich…

Auch Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) macht sich keine große Mühe mehr mit der erzählerischen Seuchenbewältigung, nachdem der Protagonist an der Seuche und an der Liebe gestorben ist. Wurden Herkunft und Ausbreitung der Cholera-Epidemie recht ausführlich dargestellt, scheint die Seuche mit dem Tod Aschenbachs ihren Zweck erfüllt und ihren Sinn verloren zu haben. Die Erzählung ist zu Ende und die Leserin mag sich denken, dass sich vermutlich auch die Cholera nach angemessener Zeit zurückgezogen haben wird – aber dieser Gedanke scheint nicht mehr wichtig, d.h. für das Anliegen der Erzählung bedeutungslos. Das Gleiche gilt auch für Olga Tokarczuks Die Jakobsbücher (2014), in denen immer wieder von Seuchen die Rede ist, die das Erzählte grundieren und motivieren. Das Ende der Seuche indessen ist von keiner erzählerischen Relevanz. Kapitel 21 „Wie die Seuche nach Lemberg kam“ beschreibt Ausbreitung und Ansteckung, bzw. die diesbezüglichen Mutmaßungen der Menschen, wobei bemerkenswerterweise religiöse Ursachen (Gottes Strafe) neben naturwissenschaftlichen Erklärungsversuchen stehen. Das Ende der Seuche ist bestenfalls eine Hoffnung der Menschen: „Alle warten jetzt auf den Winter wie auf die Erlösung, der Frost verhindert die Fäulnis, weshalb die Krankheit im Winter verschwindet oder doch sichtlich an Gewalt verliert“ (Olga Tokarczuk, Die Jakobsbücher, Zürich 2019, 509).

Das einigermaßen groteske Ende von Gabriel García Márquez‘ Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera aus dem Jahr 1985, das ein altes Liebespaar auf einem unter der Pest- bzw. Choleraflagge permanent zwischen zwei entfernten Häfen hin- und herfahrenden Schiff zeigt, setzt auf eine nicht aufhören sollende Seuche (vgl. das Dossier BILDER, METAPHERN, ALLEGORIEN). Das Paar, Fermina Daza und Florentino Ariza, das sich erst im Alter wiedergefunden hat, fürchtet gesellschaftliche Sanktionen ob seiner späten Liebe, wenn es an Land gehen muss. Freilich weiß man, dass der Tod der einen oder des anderen der Liebe auf dem Pestschiff ein Ende bereiten wird. Während in den meisten literarischen Texten, in denen von einer Epidemie die Rede ist, das Ende innerdiegetisch zwar erwünscht ist, die Diegese selbst aber vom Auftreten und den Erscheinungsformen der Seuche profitiert, stellt die Cholera in Marquez‘ Roman für das alte Liebespaar eine höchst willkommene Ermöglichungsbedingung seines späten, gleichwohl natürlicherweise begrenzten Glücks dar.

Einigermaßen intrikat ist das Ende von José Saramagos Die Stadt der Blinden (1995). Hier wütete eine seltsame Augenerkrankung, die alle Infizierten – und das sind im Roman fast alle – plötzlich erblinden lässt. Und zwar wird es den Betroffenen nicht schwarz vor den Augen, sondern sie erblinden in gleißender Weiße (vgl. das Dossier VORKEHRUNGEN UND REGELN). Infolge der flächendeckenden Erblindung bricht die gesellschaftliche Ordnung zusammen. Aber mit einem Mal wendet sich das Blatt einigermaßen unvermittelt, die Leute werden der Reihe nach wieder sehend, nur die Frau des Arztes, die nicht infiziert war und eine kleine Gruppe von Erblindeten zusammenhalten konnte, scheint plötzlich ihr Augenlicht zu verlieren. Das Ende ist also ähnlich ambivalent wie bei Camus:

Die Frau des Arztes stand auf und ging zum Fenster. Sie sah hinunter auf die mit Müll bedeckte Straße, auf die Menschen, die riefen und sangen. Dann hob sie den Kopf zum Himmel und sah alles weiß, Jetzt bin ich an der Reihe, dachte sie. Die plötzliche Angst ließ sie den Blick senken. Die Stadt dort unten war noch immer da. (José Saramago, Die Stadt der Blinden. Deutsch von Ray-Güde Mertin, Reinbek bei Hamburg 1999, 399)

Vielleicht ist die Sache noch komplexer: Die Frau des Arztes sieht zwar „alles weiß“, aber trotzdem kann sie die Stadt unter dem Fenster noch wahrnehmen. Möglicherweise erblindet sie auch gar nicht. Gibt es vielleicht doch noch einen Zustand zwischen Sehen und Nicht-Sehen, zwischen Epidemie und Nicht-Epidemie, zwischen Ende und Nicht-Ende?