Zurück zum Anfang?

Das offene Ende des "Decameron"
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)

Die Erzählergemeinschaft in der Kirche Santa Maria Novella, in: Giovanni Boccaccio, Decameron, MS italien 63, fol. 8r
© Bibliothèque nationale de France

Das Ende einer Epidemie darzustellen, scheint für die Literatur kein besonders zentrales Anliegen zu sein, wie die Beispiele in Martina Wagner-Egelhaafs Dossier-Beitrag „Ende ohne Ende? Wie die Literatur das Ende von Epidemien darstellt“ anschaulich belegen. Boccaccios Decameron fügt sich diesem Befund ein: Den Anfang der Novellensammlung bildet die ausführliche und drastische Beschreibung der Pest und des aus ihr resultierenden Zusammenbruchs der städtischen Ordnung von Florenz. In der Kirche Santa Maria Novella findet die Erzählergemeinschaft, bestehend aus sieben jungen Frauen und drei jungen Männern, zusammen und beschließt, die Stadt zu verlassen und Schutz auf ihren Landgütern im contado zu suchen. Als Zeitvertreib wählen sie das Erzählen von Novellen, das sie durch eine spezifische Ordnung strukturieren: An jedem der zehn Erzähltage werden zehn Geschichten vorgetragen, und jedes Mitglied der geschlossenen Gesellschaft ist einen Tag lang Königin bzw. König und verfügt in dieser Funktion über das Privileg, ein Tagesthema vorzugeben. Die strenge Ordnung, von der nur Dioneo, das enfant terrible der Gruppe, eine Ausnahme erwirkt, bildet einen Gegenentwurf zum Chaos in Florenz.

Nach dem Vortrag der 100. Novelle kehren die jungen Leute in ihre Heimatstadt zurück, und zwar an den genauen Ausgangspunkt ihrer Unternehmung, in die Kirche Santa Maria Novella:

E come il nuovo girono apparve, levati, avendo già il siniscalco via ogni lor cosa mandata, dietro alla guida del discreto re verso Firenze si ritornarono; e i tre giovani, lasciate le sette donne in Santa Maria Novella, donde con loro partiti s’erano, da esse accommiatatosi, a’ loro altri piaceri attesero, e esse, quando tempo lor parve, se ne tornarono alle lor case.

Sobald der neue Tag erschien, erhoben sie sich, während der Seneschall ihr Gepäck bereits vorausgeschickt hatte, und kehrten unter der Führung des verständigen Königs nach Florenz zurück. Hier verließen die drei jungen Männer die sieben Damen in Santa Maria Novella, von wo sie mit ihnen aufgebrochen waren, nahmen von ihnen Abschied und gingen, wohin es ihnen gefiel. Die Damen aber kehrten, als es ihnen an der Zeit schien, in ihre Wohnung zurück. (Giovanni Boccaccio, Decameron, Übersetzung Karl Witte)

Der hier zitierte Schluss des Decameron markiert eine Rückkehr zum Anfang. Äußerlich hat sich nichts geändert, die Situation in Florenz hat sich binnen vierzehn Tagen nicht zum Besseren gewendet, ein Ende der Epidemie ist nicht in Sicht. Warum also kehren die jungen Leute zurück? Und warum wird ihre Heimkehr in das nach wie vor pestgeplagte Florenz – anders als ihre Flucht, die sie mit der naturrechtlichen Verpflichtung legitimiert haben, das eigene Leben zu bewahren – mit keinem Wort problematisiert?

Eine mögliche Antwort auf diese Fragen liegt in Boccaccios Bewertung des Erzählens, das im Decameron als remedium in Krisenzeiten präsentiert wird (siehe meinen Dossier-Beitrag „Boccaccios Decameron oder die Kunst des Erzählens als remedium gegen die Pest“). Vittore Branca, der große Boccaccio-Kenner und Herausgeber, hat den Erzählprozess im Decameron als „un vero itinerario catartico“ bezeichnet. Das Erzählen hat die jungen Leute aber nicht nur im Sinne der aristotelischen Katharsis von schädlichen Leidenschaften geläutert. In den Erzählungen wurden darüber hinaus die gesellschaftspolitischen, religiösen, rechtlichen und ökonomischen Verhältnisse in Florenz und anderen italienischen Städten einer kritischen Betrachtung unterzogen. So haben die Erzählerinnen und Erzähler nun zwar kein medizinisches Heilmittel gegen die Pest in der Hand, aber sie sind in ihrer inneren Haltung gestärkt und sensibilisiert gegenüber sozialen Missständen, die die städtische Ordnung bereits vor Ausbruch der Pest gefährdeten.