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Zurück zu welcher Zukunft? – Erinnern und Gedenken inmitten der Pandemie

Von Historiker Matthias Sandberg

Erinnern und Gedenken ordnen Erlebtes nicht nur in Gestalt individueller Erfahrungen und persönlicher Perspektiven, sondern bieten ganzen Gesellschaften in Form des kollektiven Gedächtnisses einen Referenzrahmen zur Einordnung historischer Erfahrung. Doch wenngleich sich auch die Praktiken des Erinnerns und des Gedenkens aus erlebter Vergangenheit speisen, zielen beide Formen auf eine Vergegenwärtigung historischer Wissensbestände. Insofern können beide einen Beitrag zur Selbstvergewisserung und Verortung eigener, individueller oder kollektiver Erfahrung in der Gegenwart leisten.

Zugleich legen die aktuell zu beobachtenden Formen des Erinnerns und Gedenkens nicht selten Vorstellungen von Zukunft, oder besser: Zukünftigkeit offen: Dass nämlich das Erinnern und das Gedenken an die Opfer von Covid-19 – wie es aus zahlreichen Ländern und zu zahlreichen Anlässen dokumentiert ist – nicht erst nach dem Ende, sondern inmitten einer anhaltenden Pandemie vollzogen worden ist und wird, zeugt zum einen von dem Bedürfnis danach, den schwerwiegenden traumatischen Erfahrungen einen Platz im Erfahrungsraum zuzuweisen, sie in die eigene Weltsicht einzupassen, und zum anderen davon, dass überhaupt eine Vorstellung von post-pandemischer Zukunft existiert. Ein Beispiel für ein aus der Vergangenheit konstruiertes und auf die Zukunft ausgerichtetes Bemühen um Selbstverortung stellt das häufig zu beobachtende historische Erinnern dar: Etwa wenn es im Zuge von Reflexionen zu den kollektiv lange vergessenen Epi- und Pandemiegeschehen – etwa zur Spanischen Grippe, zu SARS, zur Vogelgrippe oder zur Schweinepest – darum geht, aus dem Umgang historischer Gesellschaften mit epi- oder pandemischen Lagen Einsichten über zukünftige Entwicklungen gewinnen zu wollen.

Darin liegt eine gewisse Eigenwilligkeit: Denn ebenso wie die Frage nach vermeintlichen historischen Regelmäßigkeiten bei der kollektiven Bewältigung von Seuchen, evozieren Akte des gemeinsamen Gedenkens und Erinnerns inmitten der Pandemie – der Einordnung des Erlebten, oder besser: des bisher Erlebten – stets auch Vorstellungen von der Überwindung der Krise. Historisch betrachtet ist das auch nur konsequent, denn jede Seuche der Weltgeschichte hat noch immer irgendwann ihren Schrecken verloren; sei es, dass die Immunisierung einen neuralgischen Punkt überschritten hat, dass Therapien oder Impfungen das Bedrohungs¬potenzial minimierten oder, dass Pandemien sozial endeten, indem eine Mehrheit von Betroffenen mit Hygienemaßnahmen brach und nach steigender Durchseuchung letztlich das Infektionsgeschehen abebbte. Insofern ist auch für die Bedrohung durch Covid-19 eine Halbwertszeit anzunehmen und der sich in gemeinsamer Erinnerung und offiziellen Gedenk¬veranstaltungen manifestierende Blick auf eine Zeit nach der pandemischen Ausnahme hat durchaus seine Berechtigung. Allein, dass eine Pandemie inmitten des Krankheitsgeschehens auch als ein endliches Übel wahrgenommen wird, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern an spezifische Bedingungen geknüpft.

Die Lektüre historischer Zeugnisse zum Erleben von Pandemien in der Antike gewähren nicht selten einen weniger zukunftsgewissen Blick der Zeitgenossen auf Seuchenereignisse. Ein prägnantes Beispiel dafür stellt der für spätere Pestdarstellungen prototypische Bericht des attischen Geschichtsschreibers Thukydides (* vor 454 v. Chr., † zw. 399 v. Chr. und 396 v. Chr.) dar; über die Pestwelle, die Athen mitten im Peloponnesischen Krieg heimsuchte (430-426 v. Chr.), bemerkte er: „Das Schrecklichste an der ganzen Misere war aber die Verzweiflung, sobald einer spürte, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzusetzen).“ (Thuk. 2,51,4) Über eine weitreichende Demoralisierung und die infolge einer äußerst pessimistischen Zukunfts¬vorstellung eintretende Anomie heißt es bei Thukydides weiter:

Man erhob Anspruch darauf, sich schnellen Genuss zu verschaffen und seinen Spaß zu haben, da man als Eintagsfliegen Leib und Leben ebenso wie Hab und Gut einschätzte. Und im Voraus sich anzustrengen für das als schön erachtete Ziel war keiner bereit, da für allzu ungewiss gehalten wurde, ob man nicht vor dessen Erreichung tot sein werde; was auf der Stelle Freude bereitete und von überall her zu diesem Zweck Fortschritt versprach, das war auf einmal gleichbedeutend mit ‚gut‘ ebenso wie mit ‚nützlich‘. Gottesfurcht oder irgendein von Menschen gemachtes Gesetz konnte sie nicht aufhalten, da man beim ersten aus der Beobachtung, dass alle ohne Unterschied dahingerafft wurden, den Schluss zog, fromm erwiesene oder auch unterlassene Verehrung laufe auf dasselbe hinaus, hinsichtlich von Gesetzesverstößen aber niemand damit rechnete, eine rechtliche Ahndung zu erleben und somit für sein Tun eine Bestrafung auf sich zu ziehen, wohingegen viel bedrohlicher die bereits verhängte über ihnen schwebe, vor deren Herabstürzen es doch nur recht und billig sei, noch ein wenig vom Leben zu haben.
(Thuk. 2,53,2-4)

So ließe sich die Darstellung Thukydides‘ zumindest ansatzweise auch als Ausdruck brachliegender oder ausbleibender Gedenkpotenziale interpretieren. Vor allem aber offenbart der Blick auf das thukydideische Narrativ, dass erstens die Gewissheit der Endlichkeit des Seuchen¬geschehens historisch betrachtet keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt, sowie dass zweitens eine zentrale Bedingung für kollektives Gedenken im Fortbestand gesellschaftlicher Ordnungs- und Regelsysteme besteht.

Besonders deutlich offenbart sich dies auch am ‚anderen Ende‘ der Antike, nämlich im Zuge einer Betrachtung des Umganges der Zeitgenossen mit der justinianischen Pest. Die Seuche suchte Konstantinopel erstmals in den 540er Jahren heim, wiederholte sich jedoch in den nachfolgenden Jahrhunderten in Wellen in der gesamten Mittelmeerwelt. Brisant war an dieser Situation jedoch nicht allein die epidemiologische Heftigkeit, mit der die Pest Konstantinopel traf, sondern dass es zeitgleich zu einer außergewöhnlichen Häufung von Krisen kam: Bevor nämlich die Pest die Stadt im Jahr 542 erreichte, hatten bereits mehrere Beben Konstantinopel heimgesucht, außerdem sorgten widrige Klimaveränderungen etwa seit Mitte der 530er Jahre für Missernten und Nahrungsmittelknappheit. Einige Jahre später kollabierte (ebenfalls wegen eines Bebens) auch noch die Kuppel der Hagia Sophia, des von Justinian Veranlassten Neubaus der alten Sophienkirche – dem größten christlichen Gotteshaus seiner Zeit. Unter dem Eindruck der bemerkenswerten Krisenakkumulation in den 540er und 550er Jahren notierte der Geschichtsschreiber Prokop (* um 500, † um 560) in seinen Historien:

„Die Sonne, ohne Strahlkraft, leuchtete das ganze Jahr hindurch nur wie der Mond und machte den Eindruck, als ob sie fast ganz verfinstert sei. Außerdem war ihr Licht nicht rein und so wie gewöhnlich. Seitdem aber das Zeichen zu sehen war, hörte weder Krieg noch Seuche noch sonst ein Übel auf, das den Menschen den Tod bringt.“
(Thuk. 4,14)

War dies eine eher nüchterne Beschreibung anhaltender Katastrophenerscheinungen, deuteten andere seiner Zeitgenossen die Ereignisse als Vorboten und Zeichen einer apokalyptischen Endzeit: Bereits seit dem 4. Jhd., vor allem aber um 500 wurden Kontingenzereignisse immer stärker als Ausdrücke des nahenden Weltenendes gedeutet. Verstärkt wurde dies durch kalendarische Berechnungen, wonach das Ende der Welt auf das 6000. Jahr und damit recht genau auf 500 fiel. Die dramatische Anhäufung von Naturkatastrophen bis hin zur justinianischen Pest im 6. Jhd. sowie die kalendarisch-eschatologisch begründete Erwartung einer ‚Zeitenwende‘ kulminierten schließlich im justinianischen Zeitalter. Dabei verbanden sich weitreichende Krisenereignisse und religiöse Deutungsmuster christlicher Apokalyptik in einer Weise, die zwar deutlich den Aspekt der Zukünftigkeit fokussiert, jedoch in einer (aus heutiger Sicht) wenig optimistischen Perspektive.

Aus christlicher Feder haben sich eine Reihe von Berichten erhalten, die (einer eigenen geschichtstheologischen Agenda folgend) einen Eindruck von der zeitgenössischen Mentalität im Umgang mit den Kontingenzereignissen ihrer Gegenwart vermitteln. So berichtet etwa Agathias (* um 531/532, † um 582) in seinem Geschichtswerk, dass es als Reaktion auf diese Unglücksfälle in Konstantinopel zu einem regelrechten Ausbruch von aller Orten geäußerter Endzeiterwartung und zahlreichen Auftritten selbsternannter Propheten gekommen sei:

Abenteuerliche Geschichten und außergewöhnliche Vorhersagen, dass das Ende der Welt bevorstehe, begannen unter den Menschen zu kursieren. Scharlatane und selbst ernannte Propheten zogen durch die Straßen und prophezeiten, was immer ihnen in den Sinn kam, und versetzten die Mehrheit des Volkes, das besonders beeinflussbar war, weil es bereits demoralisiert war, in noch größere Angst. Noch bedrohlicher waren die Prophezeiungen derjenigen, die vorgaben, von einem prophetischen Wahn ergriffen und von einer übernatürlichen Macht besessen zu sein, und die behaupteten, sie hätten die Zukunft von den Geistwesen erfahren, die mit ihnen verkehrten, und die mit ihrer dämonischen Besessenheit prahlten. Andere, die über die Bewegungen und Aspekte der Sterne nachdachten, deuteten, wie zu erwarten war, düstere Andeutungen auf größere Unglücke und auf etwas, das fast einer kosmischen Katastrophe gleichkam. […].
(Thuk. 5,5,2-3)

Der von Agathias vermittelte Eindruck ist nicht unglaubwürdig: Selbst bereinigt um die geschichtstheologischen Interpretationen der Ereignisse als Vorboten des nahenden Weltendes muss die demoralisierende Wirkung der ungewöhnlichen Häufung von Katastrophen der 540er und 550er Jahre für die Zeitgenossen enorm und der Glaube an eine rasche Normalisierung der Lebensumstände tatsächlich ein gutes Stück entfernt gewesen sein. Die Zuversicht einer raschen Rückkehr zur Normalität spricht jedenfalls nicht aus den zeitgenössischen Berichten und – wenn man von dem historiographischen Charakter der Darstellung selbst absieht – ebensowenig das Bemühen um Erinnerung und Gedenken ad hoc. Darin fügt sich die Beobachtung Prokops, wonach auch im Falle der justinianischen Pest die regelkonforme Beisetzung von Toten ausgeblieben sei, bzw. in Anbetracht der schier überwältigenden Zahl von Verstorbenen ausbleiben musste: „Die Toten erhielten weder das übliche Geleite noch den gewöhnlichen Trauergesang; es mußte genügen, wenn man eine Leiche auf den Schultern bis zum städtischen Ufergelände trug und dort hinwarf, wo dann die Toten auf Kähne verladen und haufenweise irgendwohin verfrachtet wurden.“ (Prok. Pers. II, 23) Von gemeinsamem Erinnern und Gedenken weiß auch die Darstellung Prokops nichts zu berichten. Das ist jedoch auch damit zu begründen, dass die Bewältigungsstrategien der christlichen Spätantike anders funktionierten.

Nach christlicher Überzeugung rührten alle Kontingenzereignisse allein vom christlichen Gott. Dem göttlichen Strafgericht begegnete man daher auch mit pönalen Kollektivritualen wie Bußprozessionen – es ging darum, das göttliche Wohlwollen mit Ausdrücken besonderer Frömmigkeit wieder zurück zu gewinnen. Davon zeugt bis heute auch die Bronzestatue des Erzengels Michael auf der Engelsburg: Als nämlich Papst Gregor I. (* um 540, † 12. März 604, Papst von 590-604) wegen der Pestwelle in Rom  (590) eine Prozession in Richtung des Mausoleums von Kaiser Hadrian – die heutige Engelsburg – führte, soll der Erzengel Michael erschienen sein. Dieser habe sein Schwert wieder in die Scheide gesteckt und damit das Ende des göttlichen Strafgerichts verkündet. Noch am gleichen Tag, soll die Epidemie geendet haben.

Letztlich trat das Weltende weder in Rom noch in Konstantinopel ein – Agathias vermerkt lakonisch: „Glücklicherweise haben sich die Vorhersagen als falsch erwiesen“ (5,5,3) – und das wird es wohl auch nicht aufgrund der aktuellen Pandemie. Dass gemeinsames Erinnern und ritualisiertes Gedenken jedoch inmitten des Infektionsgeschehens vollzogen werden, zeugt von der Zuversicht, dass – wenngleich auch das Virus nicht verschwinden mag – das Bedrohungspotenzial von Covid-19 in Zukunft geringer ausfallen wird. Doch diese Zuversicht ist, historisch betrachtet jedenfalls, keine Selbstverständlichkeit. Es bleibt die Frage, wie sich zukünftige Generationen an das pandemische Geschehen der frühen 2020er Jahre erinnern werden. Aufschlussreich mag in dieser Hinsicht die Beobachtung sein, dass, während noch in den ersten Monaten der Pandemie häufig die Hoffnung auf eine Rückkehr zur prä-Covid-Normalität als Zukunftsentwurf im Raum stand, sich heute immer deutlicher zeigt, dass der Weg zurück in die ‚normalisierte‘ Zukunft nicht ohne, sondern mit dem Covid-Erreger zu beschreiten sein wird.