Gedichte gegen das Vergessen

Von Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf (Germanistik)

© internationales literaturfestival berlin

Seit Beginn der Corona-Pandemie werden wir mit Zahlen konfrontiert: Infizierte, ,mit oder an‘ Corona Gestorbene, Inzidenzwerte. Gebannt schauen wir auf steigende oder fallende Zahlen, wie sie täglich vom Robert Koch-Institut veröffentlicht werden. Wenn in Washington am Reflecting Pool vor dem Lincoln Monument eine Laterne für 1000 Opfer entzündet wurde, ist das allenfalls ein hilfloser Versuch, die erschreckend abstrakten und anonymen Zahlen wenigstens auf ein überschaubares Maß herunterzubrechen. Wie Bundespräsident Steinmeier in seiner Rede auf der zentralen Gedenkveranstaltung für die Verstorbenen in der Corona-Pandemie am 18. 4. 2021 vermerkte, macht man sich oft nicht klar, dass hinter den Zahlen Schicksale und Menschen stehen, deren Leiden und Sterben in der Öffentlichkeit unsichtbar bleiben.1  An den Anfang seine Rede stellte er Verszeilen von Erich Mühsam (1878-1934), dem anarchistischen Dichter, der 1934 von den Nationalsozialisten im KZ Oranienburg ermordet wurde. Sie lauten:

Wem kann ich klagen
Der mit mir fühlt?
Wem kann ich sagen,
Was in mir wühlt?

Das sind nur die ersten vier Verse eines längeren Gedichts, das in Gänze lautet:

Jedem frißt eigenes
Leid in den Säften.
Manche verschweigen es.
Einige zeigen es.
Aber die Menge vergißt's in Geschäften.
Nur wer uns liebt,
Wird mit uns teilen.
Liebe vergibt,
Liebe kann heilen.
Ich schaue zurück:
Einst durft ich lieben.
Doch all mein Glück
Ist Stück für Stück
Am Wege geblieben.2

Offensichtlich helfen geformte und künstlerisch gestaltete Worte eigene Worte zu finden. Der Bundespräsident hat nur die ersten vier Verse zitiert, aber auch die folgenden Verse wären im Sinn der Erfahrung von Leid und Verlust lesbar, wendet sich das Gedenken doch gerade gegen das Vergessen „in Geschäften“. Und eben hier ist das Teilen im Zeichen von Liebe und menschlichem Miteinander wichtig. Das Gedicht von Mühsam wendet sich mit den letzten Versen ins Persönliche, wenn es in der ersten Person vom Verlust einer Liebe spricht. Hier mag das Zerbrechen einer Liebesbeziehung angesprochen sein. Aber eben dieser Verlust von Liebe lässt Mühsams Gedicht besonders trostlos erscheinen und eine Erfahrung aussprechen, die viele Menschen, die in der Pandemie einen geliebten Partner oder eine Partnerin verloren haben, nachvollziehen werden. Gleichwohl: Die Kraft eines, auch nur ausschnitthaft zitierten Gedichts, scheint darin zu liegen, dass seine Worte von einer ganz bestimmten Person, im vorliegenden Fall vom höchsten Repräsentanten des Staats, in einer ganz bestimmten Situation gesprochen werden und doch über diese Situation hinausreichen. Will sagen: die Verse gehen in der Situation, in der sie herbeizitiert werden, nicht auf – und daher in ihr auch nicht unter. Wenn der Redner die Verse spricht, teilt er sie mit denen, die er erreichen möchte, in der vorliegenden Situation zuvörderst mit den Angehörigen und Freunden der in der Pandemie Gestorbenen. Das Mitteilen von überindividuellen Versen ist ein gemeinschaftsstiftendes Teilen.

Ein ähnlicher Gedanke liegt einem Projekt des Literaturfestivals Berlin zugrunde, das am 5. September 2021 eine weltweite Lesung für die Corona-Toten organisierte. Zahlreiche Autorinnen und Autoren aus vielen verschiedenen Ländern haben gelesen bzw. Texte für die Lesung zur Verfügung gestellt. Sie können im Internet, das damit auch zu einer Art Gedächtnisort wird, nachgelesen werden.3  Gelesen wurden Prosatexte, aber auch sehr viele Gedichte – in jedem Fall stand das geformte Wort im Zentrum, das ganz andere Vorstellungen und Bilder evoziert als Zahlenreihen, vor allem sehr viel weniger eindeutig ist und Gedankenräume eröffnet. Literatur unterbricht die Routinen des Alltags und lässt innehalten. Literarische Texte und insbesondere Gedichte wollen wiedergelesen werden, sie sollen sich einprägen und erfüllen auf diese Weise eine spezifische Gedächtnisfunktion. In dem Moment, in dem sie geteilt und von anderen gelesen oder gehört werden, nehmen sie je individuelle Gestalt und Bedeutung an – und bleiben doch immer jenseits, indem sie auch Irritation und Widerstand bieten. Gerade dadurch werden sie zu Monumenten, an denen sich Gedächtnis ereignet und erneuert. Lernt man im Berliner Literaturprojekt mit der isländischen Schriftstellerin Steinunn Sigurdardottir die an Covid verstorbene Großmutter ihrer Freundin Júlia kennen, erinnert ein Gedicht von Edward Hirsch aus den USA an acht Verstorbene aus seinem Block im anscheinend gottverlassenen Brooklyn, und Forrest Gander, ebenfalls USA, teilt Zeilen, aus denen Stimmen zu uns sprechen, von denen wir nicht genau wissen, woher sie kommen, die uns aber vielleicht umso mehr treffen:

Aubade
Can you hear dawn edging close, hear  *  soft light with its vacuum fingertips  *  gripping the
bedroom wall, an understated  *  what? exhilaration? Can you hear the voices,  *  if they can
be called voices, of towhees  *  scratching in the garden and then  *  the creaky low husky  * 
voice flecked with sleep beside you in bed  *  telling a dream slowly as though in real time,  * 
and now, interrupting that dream, can you  *  make out the voice, if it can be  *  called a voice,
of absence speaking  *  intimately to you, directly,  *  using the names of those who were
vulnerable  *  those who have gone  *  I know you must  *  hear it feelingly, a low vibration in
*  your bones, for don’t you find yourself  *  absorbed in a next moment beyond your given
life?